Der 21. November 2012 war für Indiens Zuckerbäcker, was für das weltweite Blumen-Gewerbe Sankt Valentin ist: der beste Geschäftstag des Jahres. Wie immer an einem Glückstag wurden auch in Bombay am letzten Mittwoch überall Süssigkeiten verteilt, an Strassenkreuzungen, in Wohnkolonien, vor Tempeln, in Bürokomplexen.
Der Anlass dafür war diesmal nicht eine Geburt oder Heirat, weder ein Karrieresprung noch ein neues Auto. Die gute Nachricht kam von einem Schafott im Zentralgefängnis von Pune. Dort war am frühen Morgen Ajmal Kasab hingerichtet worden, einer der Täter von 26/11, dem Terroranschlag, der sich in Bombay an diesem Montag zum viertenmal jährt. Eine Zeitung fand für das Volksgefühl ein pointiertes Emblem: eine Girlande. Doch sie hängt nicht vom Kopf eines Menschen herab – es ist der Kopf, der an ihr herunterhängt.
Sorgfältige Untersuchung
Es war der Preis, den der 25-Jährige zu bezahlen hatte, für die drei Tage Terror, die er und seine neun Mordbrüder an jenen Novembertagen über die Stadt brachten. Kasab konnte noch am ersten Abend lebend gefasst werden, der einzige Überlebende dieser Selbstmord-Aktion. Und der Zufall wollte es, dass Kasab auch der Einzige war, der ohne Vermummung sein blutiges Handwerk erledigte und gefilmt wurde, wie er wartende Zugreisende im Victoria Terminus mit seinen Kugeln niedermähte.
Der indische Rechtsstaat hatte sich die Vergeltung für diese Untat nicht leicht gemacht. 658 Zeugen wurden vernommen und weitere 250 schriftliche Aussagen wurden ausgewertet. Kasab appellierte gegen das Todesurteil, doch das Oberste Gericht des Landes lehnte eine Neuverhandlung ab.
Tod eines aussätzigen Hundes
Während das Gnadengesuch an den Staatspräsidenten hängig war, war Kasab in einem speziell errichteten Trakt im Arthur Road Jail in Bombay untergebracht, ohne Besucher, aber versorgt mit allen Privilegien, die einem Gefangenen Erster Klasse zukamen. Am letzten Montag lehnte Präsident Mukherjee das Gnadengesuch ab, am Mittwoch war Kasab tot. Der Jubel war gross, die Zuckerbäcker hatten Hochbetrieb.
Laut Polizeisprecher war Kasab ruhig und gleichmütig in den Tod gegangen. Seine letzten Worte klingen buchstäblich wie Galgenhumor, aber es war in Wahrheit ein Gebet: „Allah, vergib mir, ein solches Unrecht wird nicht mehr geschehen.“ Die Volksseele mochte diese Selbstbesinnung offenbar nicht akzeptieren, und statt dem Presse-Communiqué liessen rührige Medienleute den Mann winseln und in seinem Kot kriechen, um einigermassen Genugtuung zu spüren.
Die Star-Kolumnistin Shobhaa De: „Er war eine Null ... er starb den Tod eines aussätzigen Hundes ... und als sich der Strick um ihn festzog, öffnete sich sein Darm.“ Der Bollywood-Regisseur Ram Gopal Verma: „Viele Inder, auch ich, hätten es gern gesehen, wenn Kasab gelyncht und gefoltert worden wäre, bevor er niedergemacht wurde.“
Abstimmung zur Abschaffung der Todesstrafe
Es ist verständlich, dass der gesetzeskonforme Tod eines einzelnen Täters kaum tröstend wirkt, angesichts eines derart kaltblütig ausgeführten Massenmords. Dazu kommt, dass dessen Hintermänner weiterhin in Freiheit leben. Sie hatten den Plan ausgeheckt, hatten die jungen Analphabeten, alle aus bitterarmen Verhältnissen, mit ihren Mordinstrumenten vertraut gemacht, hatten ihnen das Paradies versprochen, und dass ihre Schwestern die nötige Mitgift erhalten würden, um einen Bräutigam zu finden. Und als während der drei Terrortage bei Einzelnen Zweifel aufkamen, instruierten sie sie via Handy: „Du hast die Geiseln noch nicht erschossen, Bruder? Was zögerst Du noch?“ Und genau diese Leute laufen bis heute in Pakistan frei herum.
Der Zufall wollte es, dass letzte Woche in New York ein UNO-Ausschuss über die Abschaffung staatlicher Hinrichtungen abstimmte – mit 111 Staaten dafür, und 36 gegen ein Verbot. Und obwohl Kasabs Tod durch den Strang der erste seit 1974 war (im eklatanten Gegensatz etwa zu den USA und China), stimmte Indien mit diesen Staaten für die Beibehaltung der Todesstrafe. Selbst eine Stimmenthaltung hätte, bei diesem zeitlichen Zusammentreffen mit der Kasab-Hinrichtung, einen Entrüstungssturm ausgelöst.
Abschreckende Wirkung der Todesstrafe?
Wenn es überhaupt jemand wagte, Zweifel am Sinn dieser Hinrichtung zu äussern, dann betraf es die in Pakistan hängigen Anklagen gegen die Drahtzieher von 26/11. Denn mit dem Tod Kasabs verschwand auch der wichtigste Zeuge der Anklage.
Stattdessen wurde die Exekution zu einem erneuten Bekenntnis für das Instrument der Todesstrafe, und sei es nur, um den Angehörigen der Opfer eine symbolische Befriedigung zu geben. Und die ewigen Verfechter der Todesstrafe nutzten das Kasab-Urteil für die alte These von der Todesstrafe als Mittel der Abschreckung. Zu ihnen gehörte auch Anna Hazare, der alte Kämpfer gegen Korruption und für das Auspeitschen von Alkoholgeniessern. Er sagte, eine öffentliche Hinrichtung „an einer Strassenkreuzung“ wäre besser gewesen als die klammheimliche Exekution im Gefängnishof von Pune. „Es wäre eine Lektion gewesen für alle, die in diesem Land den Tod anderer Menschen verursachen.“
„Aug-um-Aug lässt die Welt erblinden“
Es war eine Äusserung, die mir sogleich den anderen berüchtigten Toten der Woche in Erinnerung rief: Bal Thackeray. Auch er hatte den Tod anderer Menschen – vieler anderer Menschen – verursacht. Doch er war nie auch nur angeklagt worden, und seine Leiche war drei Tage zuvor, in die Trikolore gehüllt, bei einem Staatsbegräbnis eingeäschert worden. Einige seiner Anhänger riefen nach Kasabs Hinrichtung triumphierend aus, Kasab sei das Menschenopfer, dargebracht zu Ehren Thackerays. Es war ein verräterisches Bild, denn es legte das atavistische Verhalten bloss, das die Ideologie von Thackeray und seiner Häscher kennzeichnet: die kaltblütige Selbstverständlichkeit, mit der sie den fundamentalen Grundsatz des Rechts auf Leben mit Füssen treten. In diesem selbstverständlichen Anspruch auf das Blut Unschuldiger trifft sich der Tyrann mit dem Terroristen.
Der zivilisierte Staat, heisst es, erhebt sich über solches Instinktverhalten. Aber es war der indische Rechtsstaat, der seinem grössten Verächter soeben die Totenehre erwies. Deshalb haben die Verfechter der Abschaffung der Todesstrafe recht, wenn sie dem Staat dieses Instrument entwinden wollen. Die Hinrichtung Kasabs lässt sich rechtfertigen. Doch bereits wartet der nächste Insasse in der Todeszelle auf das Verdikt des Staatspräsidenten.
Er heisst Afzal Guru, und er soll der Urheber des Angriffs auf das indische Parlamentsgebäude vor elf Jahren gewesen sein. Guru hat kein Geständnis abgelehnt, er hat niemanden getötet, und das einziges Indiz für seine Verwicklung ist die Telefon-Nummer eines Attentäters in seinem Handy. Doch die Parteien, darunter Thackerays Shiv Sena, wollen ihn hängen sehen. Die Gerichte konnten sich dem Druck von Volksmeinung und Politikern nicht entziehen, und Staatspräsident Mukherjee ist ein alter Politiker. Gandhi hatte wohl recht, als er sagte: „Aug-um-Aug lässt die Welt erblinden.“ Es ist nicht die Blindheit der Justitia.