Der schwere Abwehrkampf der Ukraine gegen die vor 19 Monaten eingefallenen russischen Streitkräfte droht gegenüber dem explosiven neuen Gaza-Krieg in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund zu geraten. In Washington versuchen die Trump-hörigen Republikaner, die von Präsident Biden geforderte zusätzliche Finanzhilfe zugunsten einer raschen Israel-Hilfe zu verschleppen.
Der nach wochenlangen parteiinternen Querelen endlich gewählte Speaker (Vorsitzende) im amerikanischen Repräsentantenhaus, Mike Johnson, hat die ihm nachgesagte ultrakonservative Trump-Hörigkeit umgehend durch Taten bestätigt. Er legte der grossen Kongresskammer eine neue Finanzvorlage vor, in der als Hauptposten nur noch eine zusätzliche Hilfszusage an Israel im Umfang von 14,3 Milliarden Dollar enthalten ist. Damit durchkreuzte er gezielt die Chancen für ein grösseres Hilfspaket, das Präsident Biden dem Kongress vorgeschlagen hatte und in dem neben der Israel-Hilfe auch eine neue Finanz- und Waffenhilfe an die Ukraine von 61 Milliarden Dollar enthalten ist.
«Schändlich, schamlos, gefährlich»
Zwar ist keineswegs sicher, dass Johnsons Variante ohne die Ukraine-Hilfe vom Kongress angenommen wird, denn im Senat verfügen immer noch die Demokraten über eine knappe Mehrheit. Ausserdem sind vorläufig auch die Republikaner nicht geschlossen gegen weitere finanzielle Unterstützungen für die Ukraine. Doch Mike Johnsons Manöver signalisiert unübersehbar, dass der Ukraine-Hilfe, anders als den Finanzzusagen für Israel, einflussreiche amerikanischen Kreise eine deutlich geringere Priorität beimessen. Laut einem Bericht im «Time»-Magazin befürworten heute nur noch 41 Prozent der Amerikaner zusätzliche Waffenlieferungen an die Ukraine. Im Juni sollen es noch 65 Prozent gewesen sein.
Thomas Friedmann, der bekannte aussenpolitische Kolumnist der «New York Times» hat diese Woche das kleinkarierte parteipolitische Manöver des republikanischen Speakers im US-Repräsentantenhaus zur Verzögerung oder gar Verhinderung der zusätzlicher Ukraine-Hilfe als «schändlich, schamlos und gefährlich» kritisiert. Speaker Johnson und seine Satrapen hätten offenkundig nicht begriffen, was im Kampf der Ukrainer gegen die russischen Invasionstruppen für den gesamten Westen auf dem Spiel stehe. Wenn es der Ukraine gelinge, sich vom imperialen Zugriff Putins zu befreien und dann in die Nato und die EU aufgenommen zu werden, so wäre das ein grosser Gewinn für das demokratisch organisierte Europa.
Gedämpfte Stimmung in Kiew
Die seit dem Ausbruch des Gazakrieges im Oktober merklich geringer gewordene internationale Aufmerksamkeit für das Kriegsgeschehen in der Ukraine scheint auch die Stimmung der Kiewer Regierung zu belasten. In einer langen Reportage über die aktuelle Gefühlslage von Präsident Selenskyj und seiner Entourage im amerikanischen «Time»-Magazine heisst es, die frühere optimistische Ausstrahlung des Präsidenten, seine Fähigkeit, eine grössere Versammlung oder eine Tischrunde durch humorvolle Bemerkungen für sich einzunehmen, sei durch ein verschlosseneres und knapperes Auftreten in der Öffentlichkeit oder im Beraterkreis abgelöst worden. Allerdings beteuern die Gewährsleute aus Selenskyjs Umkreis gegenüber dem «Time»-Reporter, der Präsident sei nach wie vor absolut überzeugt, dass es gelingen werde, die russischen Invasoren aus dem Land zu vertreiben. Davon lasse er sich auch von einzelnen Rückschlägen und den überzogenen Erwartungen an die im Frühling und Sommer lancierte Gegenoffensive an der Ost- und Südfront nicht abbringen.
Einige von Selenskyjs Beratern äussern sich aber auch besorgt darüber, dass für den Präsidenten der Gedanke an Waffenstillstandsverhandlungen mit Russland zum jetzigen Zeitpunkt tabu sei – vor allem wenn ein solches Abkommen mit der Aufgabe von besetzten ukrainischen Territorien verbunden wäre.
Nüchterne Lageanalyse des ukrainischen Armeechefs
Die nach 19 Monaten des mörderischen Kampfes an der Kriegsfront und den ständigen russischen Raketen- und Bombenangriffen gegen Wohngebiete und Infrastrukturanlagen verringerten oder verblassten Hoffnungen in der Ukraine auf neue gewichtige Erfolge gegen die russischen Invasoren sind verständlich. Nun hat auch der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschni, solche niedrigen bis pessimistischen Erfolgseinschätzungen in einem Gastbeitrag für den britischen «Economist» weitgehend bestätigt. Er räumt ein, dass die vor fünf Monaten begonnene ukrainische Gegenoffensive nur punktuelle Terraingewinne erbracht habe und der angestrebte Durchbruch eines Korridors bis zur Grenze der Krim-Halbinsel nicht gelungen ist.
Der Armeechef befürchtet, dass die Fronten sich im anbrechenden Winter zu einem zermürbenden Stellungskrieg verfestigen könnten. Wenn dies der Fall sei, habe Russland wegen seiner grösseren Masse an militärischen und wirtschaftlichen Reserven und seiner Luftüberlegenheit wahrscheinlich die besseren Karten, die Ukraine in die Defensive zu drängen.
Saluschni sieht als Gegenrezept zu dieser unerfreulichen Prognose eine energische Stärkung der ukrainischen Luftwaffe. Wie das kurzfristig bewerkstelligt werden soll, bleibt indessen undurchsichtig. Die von verschiedenen Nato-Ländern versprochenen Kampfjets vom Typ F-16 können voraussichtlich erst im nächsten Jahr geliefert werden, zudem fordert die erst begonnene Ausbildung ukrainischer Piloten für diese Maschinen einige Zeit. Der Armeechef hofft weiter, dass mit einem wesentlich vergrösserten und verbesserten Arsenal ukrainischer Drohnen die bestehende Lücke bei den Kampfflugzeugen ausgeglichen werden könnte.
Kann Putin sich die Hände reiben?
Hat heute also der Kriegsherr Putin, der den blutigen Überfall gegen die Ukraine ohne jeden plausiblen Grund und entgegen allen völkerrechtlichen Regeln mutwillig vom Zaun gerissen hat, guten Grund, sich zufrieden zurückzulehnen? Läuft dieser schändliche Krieg dank der Ablenkung und Prioritätenverschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung durch die ähnlich entsetzliche Israel-Gaza-Tragödie sowie einer unterschwellig resignativen Stimmung in der Ukraine ganz in seinem Sinne?
Vor solchen eindeutigen Schlussfolgerungen sollte man sich hüten, auch wenn einige Putin-Claqueure im Westen mit triumphierendem Unterton behaupten, die Ukraine habe den Kampf gegen Russland definitiv verloren. Erstens wissen wir über die wahren Stimmungen in der russischen Bevölkerung und die Zustände in den Streitkräften schon deshalb nicht zuverlässig Bescheid, weil kritische Stellungnahmen und unabhängige Stimmen in den öffentlichen Medien durch Putins Repressionsapparat rigoros erstickt worden sind. Und zweitens sollte man nicht völlig ausschliessen, dass rebellische Auflehnungen in der Armee, wie sie der frühere Putin-Intimus Jewgeni Prigoschin im vergangenen Juni angezettelt hatte, zu einem unerwarteten Zeitpunkt erneut ausbrechen könnten.
Fast ein Wunder
Vor allem darf nicht vergessen werden, dass Putin seine ursprünglichen Kriegsziele, die Ukraine wieder ganz unter die Kreml-Kontrolle zu bringen, überhaupt nicht erreicht hat. Der in den ersten Wochen des Überfalls begonnene Feldzug zur Eroberung der Hauptstadt Kiew und der Vertreibung der Regierung Selenskyj ist total gescheitert. Auch die Einnahme von Charkiw, der zweitgrössten Stadt im Osten des Landes, ist nicht erreicht worden. Vor einem Jahr gelang es der von Putin offenkundig weit unterschätzten ukrainischen Armee, die russischen Truppen an einigen Frontabschnitten erheblich zurückzudrängen. Mehr als nach anderthalb Jahre seit Beginn des Überfalls ist lediglich ein Fünftel des ukrainischen Territoriums vom russischen Militär besetzt. Mit einer bedeutenden Ausdehnung dieser russischen Besetzung scheint man auch in Moskau nicht zu rechnen.
Im Rückblick und verglichen mit der Ausgangslage vom Februar 2022 erscheint deshalb die Widerstandskraft der ukrainischen Gesellschaft und ihrer Streitkräfte gegen die russische Grossmacht, die Putin gerne als Supermacht definiert, fast wie ein Wunder. Dass dieses Wunder ohne westliche Waffen- und Finanzhilfe nicht zustande gekommen wäre, bleibt unbestritten.
Nato-Mitgliedschaft als Sicherheitsgarantie unerlässlich
Dennoch sollte das Nachdenken über einen Waffenstillstand oder eine Kampfpause zwischen der Ukraine und Russland nicht zum Tabu erklärt werden, auch wenn Präsident Selenskyj zumindest in seinen öffentlichen Verlautbarungen davon nichts wissen will. Praktisch müsste Kiew damit vorläufig akzeptieren, dass der grösste Teil des Donbass und die Krim unter russischer Kontrolle bleiben würden. Das wäre für Selenskyj und wahrscheinlich die Mehrheit der Ukrainer schwer zu schlucken. Aber ein Waffenstillstand würde keineswegs eine völkerrechtliche Anerkennung der russischen Souveränität über die besetzten ukrainischen Gebiete bedeuten. Putin wird ja in Moskau nicht ewig an der Macht bleiben. Auch das geteilte Deutschland ist fast fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder vereinigt worden, obwohl am Ende nicht mehr viele mit dieser Möglichkeit gerechnet hatten.
Nicht verhandelbar sollte aber für den Fall einer Waffenstillstandsvereinbarung das grundsätzliche Recht der Ukraine sein, sich in freier Entscheidung der Nato und der EU anzuschliessen. Die Mitgliedschaft in diesen westlichen Bündnissen wäre die verlässlichste Sicherheitsgarantie gegen neue imperiale Expansionsgelüste Putins oder seiner Nachfolger. Hätte die Nato aus Rücksicht auf Putins Empfindlichkeit im Jahre 2008 den ukrainischen Wunsch auf einen Aufnahme-Entscheid nicht zurückgestellt, so hätte der Kremlherr es kaum gewagt, das Nachbarland mit seiner Kriegsmaschinerie zu überfallen.