Man könnte von „anderen Bewusstseinszuständen“ reden, in welche unglückliche Liebe Frauen – aber auch Männer – zu versetzen vermag. Traum, Schlafwandel, Wahn: das sind Namen für Fluchtorte aussichtslos ersehnter oder zutiefst enttäuschter Liebe.
Von Maria Callas gibt es sogar eine CD mit „Wahnsinnsszenen“ aus der Belcanto-Epoche, wo diese Sängerin die Folgen nicht gelingender Liebe aus romantischen Opern mit umwerfender Eindringlichkeit gestaltet. Psychologen haben diese dunkle Seite des Liebeslebens – Hysterie und Wahnsinn als Ausdruck weiblichen Liebesentzugs – als historische Entfaltungsstufe bürgerlicher Ehezwänge zu deuten gesucht.
Romantische Opernstoffe allerdings sind meist noch von Adelsgeschlechtern einerseits, von idyllischer Pastoralschwärmerei andererseits geprägt. Vincenzo Bellini und sein Librettist Felice Romani haben es geschafft, die heilbare Form weiblicher Liebesnot in ihrer La sonnambula – Die Schlafwandlerin gültig zu gestalten.
Der vermeintliche Liebesverrat
In einem Schweizer Dorf des frühen 19. Jahrhunderts soll eine Hochzeit gefeiert werden zwischen der schönen Amina und dem reichen Bauern Elvino. Doch bis zur Hochzeit erleben wir Szenen von sich aufstauenden Hindernissen und Missverständnissen, von Fehleinschätzungen und vermeintlichem Liebesverrat, sodass die glückliche Vereinigung der Liebenden am Ende wie ein halbes Wunder erscheint. Den glücklichen Ausgang einer Liebesgeschichte verlangte das Opernpublikum freilich nicht nur zur Zeit der Romantik. Diese Oper mit ihren zahlreichen Stimmungswechseln zwischen fröhlicher Naivität, Gespensterglauben, Schuldvermutungen und beinah gebrochenen Herzen begeistert noch heute das Publikum, zumal wenn sie mit dem Raffinement perfekter Belcanto-Stimmen realisiert wird.
Berühmt geworden ist die Arie der schlafwandelnden Amina. Es ist die Szene, in welcher Amina in tiefer Trauer um ihren verloren geglaubten Geliebten Elvino auf dem Dach der Mühle balanciert. Manchmal sehen wir sie in Operninszenierungen auch auf einem morschen Brückensteg wandeln. Die Beobachtenden – der Chor der Dorfbewohner, die Müllerin, der Graf Rodolfo, aber auch Elvino – sehen, wie Amina auf dem First zittert und schwankt, dann aber doch nicht stürzt. Wir hören sie eindringlich bitten: „Ach könnte ich ihn nur noch ein einziges Mal wiedersehen!“
Amina hört die Kirchenglocke schlagen. Sie weiss, dass sie ihren Geliebten verloren hat, ohne eigene Schuld, denn sie war ihrem Geliebten nie untreu. Schlechtes kann sie ihm aber nicht wünschen. „Er sei so glücklich, wie ich unglücklich bin!“ Den Treuering hat er ihr zwar geraubt, doch sein Bild bleibt ihrer Seele eingebrannt.
Auch die Blumen, die Elvino ihr geschenkt hat, sind inzwischen verdorrt. An diese Blumen richtet sich nun Aminas berühmte Aria „Ah non credea mirarti“: „Ich hätte nicht geglaubt, ihr Blumen, euch so rasch verwelkt zu sehen. Ihr seid vergangen wie die Liebe, die nur einen Tag dauerte.“
Zur Liebe wiedererweckt
Amina wünscht, dass ihre Tränen den Blumen neue Kraft zu geben vermögen. Doch sie ahnt, dass Tränen die Liebe nicht zurückbringen. „Ravvivar l’amore“ heisst das Schlüsselwort hier: der Liebe wieder Leben geben, das ist ihr einziger Wunsch. „O komm zurück, Elvino!“ ruft sie, immer noch schlafwandlerisch befangen. Bis dieser sie, endlich erlösend, weckt und – zum Entzücken ihrer Umgebung und des Publikums – in seine Arme schliesst.
Die Melodie Bellinis für diese „Blumenarie“ ist von erschütternder Schlichtheit. Gezupfte Bässe, einfache Begleitfiguren der Geigen, darüber die zunächst in Moll, später sich in eine Dur-Passage verwandelnde und kurz auch von Bläsern gestützte Melodie. Einige Übergangstakte einer klagenden Oboe, im abschliessenden Teil wird die Stimme von einem Solocello sekundiert. Man glaubt es kaum, wie Trauer und Schönheitserwartung einander stützen können.
Schlafwandlerische Gesangskunst
Von Amina verlangt der Komponist leise gehauchtes Leid, gegen Ende der Arie Koloraturen der luftigsten und der innigsten Art. Die Sängerin der Amina muss gleichsam in ihrem Unterbewusstsein singen und gestalten können, damit der Zustand schlafwandlerischen Zaubers erreicht wird. Heutige Belcanto-Sängerinnen wie Edita Gruberova, Angela Gheorghiu oder Cecilia Bartoli, die das „Melodramma“ nach der kritischen Ausgabe von 2004 singt, versetzen gerade mit dieser Bellini-Arie nach wie vor Opernhäuser und Konzertsäle in schlafwandlerische Trance.
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Vincenzo Bellini, „Ah non credea mirarti“ aus La Sonnambula (1831), mit Angela Gheorgiu, London Symphony Orchestra, Evelino Pidò, EMI 2001; mit Cecilia Bartoli, Orchestra La Scintilla, Alessandro de Marchi, Decca 2008.