Sachin Tendulkar ist der meistgeliebte Mitbürger, über alle ethnischen, religiösen, regionalen und Altersschranken hinweg. Auch deshalb, weil er Werte verkörpert, die sie sonst eher selten antreffen: Ehrlichkeit, Disziplin, Kampfwille, und Patriotismus. Nun tritt er ab, „und 1.2 Milliarden Menschen trauerrn“.
Indien steht eine Zeitenwende bevor, und sie lässt sich genau festlegen: 23. November 2013. „Von da an wird es eine Zeit v.S.T und eine Zeit n.S.T. geben“, behauptet das Wochenmagazin ‚Outlook‘. An jenem Tag wird Sachin Tendulkar in Bombay aus dem Spieler-Pavillon ins Oval des Wankhede-Stadions treten. Er wird ein letztes Mal in den Farben seines Lands vor den drei Stäben des ‚Wicket‘ – dem Cricket-‚Tor‘ – Stellung beziehen, bereit, den roten Ball eines West Indies-‚Bowlers‘ in hohem Bogen oder mit einem leichten ‚Flick‘ seines Schlagstocks ins ‚Aus‘ zu befördern.
Für die aristokratische britische Elite
Es wird Sachin Tendulkars zweihundertster internationaler ‚Test‘-Match sein, so viele wie noch kein Spieler vor ihm gespielt hat. Es ist nur einer der vielen Rekorde dieses kleinen kraushaarigen Manns, seitdem er mit sechzehn Jahren zum ersten Mal für Indien spielte. Keiner hat in Nationalspielen je so viele ‚Centuries‘ – hundert ‚Runs‘ in einem einzigen Match – gebucht, keiner so viele ‚Runs‘ totalisiert (über zehntausend). Sein junges Startalter erlaubte es ihm, 25 Jahre lang ein Spitzenathlet zu sein. Nun kann er, erst vierzigjährig, ins Glied zurücktreten.
Cricket war lange der Sport einer aristokratischen britischen Elite. Alles an ihm atmete Adel. Fünf Tage für einen Testmatch? Soll heissen, dass es ein Spiel für Leute ist, die nicht arbeiten müssen. Die Spieler tragen weisses Flanell, zwischendrin gehen sie zum Tee in den ‚Pavillon‘. Und gedacht ist Cricket ohnehin nur für intelligente Leute, die die vertrackten Regeln kennen, sowie die Härte der Grasnarbe, die Wichtigkeit von Tageszeit und Luftfeuchtigkeit, ein Sport, in dem Strategie wichtiger ist als Herumrennen.
Sprachlicher Snobismus
Es ist auch ein Spiel, das seine aristokratische Abgehobenheit mit einer eigenen Sprache ausdrückt, verstanden nur von den Wenigen, die Klasse und Privat-Erziehung dazu auserwählt – keine Sprache für uns Fussball-Proleten: „ ... He charged down the pitch to slog pacers over long-on, launched into overpitched balls, pulled the short balls murderously...He put his signature on the no-holds-barred pull, the straight-bat lofted shot, the whipped flick through mid-wicket off length balls, the booming cover drive, and the straight punch past the stumps... Tendulkar was maintaining a shortened backlift with a minimal follow-through, directed short balls non-chalantly over the slips. While trying to paddle-scoop pacer Clint McKay to the vacant fine-leg area, he top-edged to short square-leg”. Sprachlicher Snobismus pur.
Die Sätze stehen nicht im ‘Wisden Almanack’, der Bibel der Cricket-Fans, sondern in der Tageszeitung ‚Indian Express‘, in einer Würdigung Tendulkars. Und solche unverständlichen Sätze hört jeder, der irgendwo in Indien nach einem grossen Spiel eine Konversation zwischen Fremden überhört. Die Briten hatten den Sport nach Indien gebracht, um den ‚Natives‘ vorzuführen, was Klasse und Zivilisation ist. Die Inder schauten sich das Spiel an und, wie so oft mit Eindringlingen, adoptierten es. Sie taten dies umso lieber, als das scheinbar Amateurhafte, Nachlässige, Elegant-Dilettantische dieses Sports ihrem Naturell (und ihrem Wetter) viel besser entsprach als wenn zweiundzwanzig Mann wild hinter einem Ball herliefen. Sie sind Cricket-Welmeister, doch in 92 Jahren Teilnahme an Olympischen Spielen gewannen sie nur eine einzige individuelle Goldmedaille.
14 Tempel, 3 Cricket-Felder
Geld, Kaste, Alter, Herkunft, Religion – dies Alles spielt keine Rolle. Nicht einmal die Ausrüstung ist de rigueur. Ich habe Kindern zugeschaut, die halbnackt, schwarz von Dreck und mit rinnender Nase, in einer Dorfgasse spielten; für die drei Torstöcke musste eine kleine Steinpyramide gradstehen, statt dem Schläger schwang der ‚Batsman‘ eine Holzschindel, und der Ball, zerfetzt wie er war, flog vom Bat platt auf den Boden. Doch dann lief der Möchtegern-Sachin zwischen den beiden ‚Wickets‘ hin und her, ungeachtet der Hühner, die kreischend vor seinen Beinen wegflatterten. Ebenso laut kreischten die jugendlichen Zuschauer, sollte es einem ‚Fielder‘ gelingen, den Steinhaufen mit diesem Gummilappen von Ball umzustossen. Das Dorf Awas, wo ich wohne, zählt 550 Haushalte, vierzehn Tempel, und drei Cricket-Felder.
Diese Hingabe an den Sport mag erklären, warum einem Ausnahmekönner wie Sachin Tendulkar eine Verehrung zuteilkommt, um die ihn selbst die populärsten Götter beneiden können. Dennoch ist es nur die halbe Erklärung. Das grosse Wort der ‚Zeitenwende‘ für den Augenblick seines Rücktritts hat auch mit ihm selber zu tun – mit seiner Herkunft, seiner Persönlichkeit, seiner Spieleinstellung, und mit dem Zeitpunkt seines Aufstiegs.
In den Hinterhöfen der verarmten Mittelklasse
Der Junge aus dem Dadar-Quartier in Bombay betrat die Cricket-Bühne, als Indien aus seiner langjährigen Stagnation zu erwachen begann. Aufgerüttelt durch eine schwere wirtschaftliche Krise, erschien das Land ein weiteres Mal in der internationalen Öffentlichkeit, diesmal nicht mit der abgehobenen Aussenseiter-Attitüde eines Nehru, sondern als Staat, der sich mit anderen Staaten messen wollte. Tendulkar hatte sein Handwerk nicht in einer Elite-Schule gelernt, sondern in den Hinterhöfen einer verarmten Mittelklasse, genauso wie die ersten IT-Unternehmer, als sie Computer-Code schreiben lernten. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung begann auch der Höhenflug des indischen Cricket-Teams, der sportlich im Gewinn mehrerer Weltcup-Trophäen gipfelte, und wirtschaftlich in der Schaffung der ‚Indian Premier League‘, einer der drei lukrativsten Teamsport-Franchisen der Welt.
Mehr noch als die sportlichen Siege machten die charakterlichen Eigenschaften Tendulkar zu einem Nationalhelden. Er ist ein Star, aber in diesem Glanz stehen in diesem cricket-verrückten Land viele Spieler. Die Achtung holte er sich mit seiner professionellen Einstellung. Bis heute arbeitet er täglich mit seinen Sparring-Partnern ‚in den Netzen‘. Seine Laufschnelligkeit trainiert er immer noch in voller Batsman-Montur (sie gleicht jener eines Eishockey-Torwarts).
Ein Mann ohne Skandale
Professionalität zeigt Tendulkar auch darin, dass er sich vom Starkult nie blenden liess. Er demonstrierte dabei Tugenden, die unter den neuen Eliten des Landes Seltenheitswert besitzen, und die, so ein Kommentator, das Land braucht, um noch an sich zu glauben: ein Mann ohne Skandale; Einer, der viel Geld verdient, aber relativ bescheiden lebt; der, wie mir ein Betroffener selber erzählte, bei den Nachbarn läutete und sich bei ihnen ob des Lärms entschuldigte, als sein Haus gebaut wurde. Letzte Woche inspizierte er eine neuinstallierte Rampe im Wankhede-Stadion, damit seine Mutter dem letzten Match beiwohnen konnte, im Rollstuhl und zum ersten Mal. Sie sei, so der Zeitungsbericht, abergläubisch und habe immer gefürchtet, wenn sie dabei sei, wäre dies das Ende seiner Karriere. Nun wird sie, erlöst, den Schicksalsschlag am 23.November selber ausführen.