Ein "Abstecher" war es nur im geografischen Sinn, ein paar Flugstunden von Bombay entfernt. In jedem anderen Sinn war es eine Weltreise. Beim nächtlichen Anflug leuchtete Doha verheissungsvoll, aber aus der Ferne glitzert auch Bombay, weil die Silberstreifen von Strassenlampen die vielen Schlafenden auf dem Asphalt darunter ausblenden.
In Doha wird nicht die Realität ausgeblendet, im Gegenteil, die Lichter sollen die Realität erst eigentlich hervorzaubern. Später liess ich mir sagen, dass die Bürobeleuchtung in den Wolkenkratzern des Geschäftsquartiers angestellt bleiben muss, selbst wenn sie leer dastehen. Nur so werde der Eindruck einer pulsierenden Weltstadt vermittelt. Es wird viel gezaubert in Doha, und die erlebte Realität hat Mühe mitzuhalten. Der Stadtplan von 2011 stimmt bereits nicht mehr, denn inzwischen ist die grosse Küstenstrasse – sie heisst natürlich "Corniche" – längst nicht mehr eine Strandpromenade, und der Strand nicht mehr der Strand.
Zwei riesige Baustellen haben sich, auf aufgeschüttetem Boden, dazwischengezwängt. Die eine wird ein Fischerdorf, in dem rechtzeitig zur Fussball-WM 2022 "Fischer" ihre Ware ausbreiten werden, die zuvor in Tiefkühlern eingeflogen wurde. Das zweite soll ein Künstlerquartier werden. Es wird wohl Chelsea oder SoHo heissen - oder Montmartre, denn der entsprechende Hügel ist auch schon am Wachsen. 250 schicke "Villas" entstehen dort, mit Gärtchen und Driveway, Künstlern aus aller Welt zum Geschenk.
"Homo Qatarus"
Auch eine "Education City" entsteht, wo Lehranstalten, so wie Harvard oder Cambridge, Northwestern oder Georgetown heissen, ihren Campus in die Wüste gesetzt haben. Den Professoren winkt, ebenso wie den Künstlern, das Bürgerrecht. Ob den "Fischern" vor der Positano-Kulisse die Einbürgerung auch offensteht, darf bezweifelt werden. Dann könnten ja alle Fremdarbeiter dasselbe Recht geltend machen, womit man gleich 80 Prozent der Bevölkerung des Erdgas-Staats beglückt hätte. Doch dann wäre die seltene Spezies des "Homo Qatarus" eben nicht mehr die winzige Elite, die gehätschelt werden muss - keine Steuern, Gratis-Haus, Gratisschulen, Gratiswasser, obwohl dieses teurer ist als das Benzin; damit ihnen ja nicht der Gedanke kommt, sie könnten auch noch demokratische Rechte wollen, dieselben, die der Emir in anderen Ländern des arabischen Frühlings mit viel Geld fördert.
Selbst bei Al-Jazeera arbeitet kein einziger Qatarer
300‘000 Qatarer soll es geben, aber man sieht sie nur, wenn man in Fünfstern-Hotels lebt, oder ein Gym besucht, oder einen der Boutiquen-Paläste aufsucht. Ansonsten muss man sie vermuten - hinter den Burqas und den getönten Scheiben der massiven Landcruiser. Die Schüler des Georgetown-Professors Mark Farha sind zu neunzig Prozent Araber aus dem Ausland, und selbst bei Al-Jazeera, einem Kronjuwel des Staats, habe ich keinen einzigen Qatarer angetroffen.
Was ich auch nicht gesehen habe, sind die Baracken der mehreren hunderttausend Bauarbeiter draussen in der Wüste. Von meinem Hotelzimmer aus sah ich jeden Morgen die zahlreichen billigen TATA-Busse die Corniche hinunterfahren, die die Arbeiter auf den Baustellen ablieferten, um sie am Abend wieder aufzulesen.
Wie kann eine Gesellschaft, die auf dieser Erdgas-Blase sitzt, leben, gedeihen, sich unterhalten? Der Gedanke überfiel mich am Abend, als unsere Reisegruppe die neugebaute Altstadt von Doha besuchte. Es gab einige Boutiquen mit Zuchtperlen (aus Japan), weil hier einmal Perlfischerei betrieben wurde. Ein Souvenirladen hortete in allen Regalen Lederwaren, und am Boden waren drei lange Stangen festgemacht. Auf ihnen kauerten einige Falken, angekettet und blind, weil ihnen die Lederkappe über die Augen gestülpt war.
Gesellschaftliche Leere
Das war so ziemlich alles, was von der lokalen Kultur noch am Leben ist. Der Rest ist eingeebnet worden und nur noch als Attrappe verfügbar, oder im wunderschönen Museum für Islamische Kunst konserviert. Die vielen tausend Heloten, die den Qatarern den Staub von den Füssen wischen, sind ja keine Demutsgeste vor einer überlegenen Zivilisation, sondern vor der Allmacht der Petrodollars. Die Luxuslimousinen können nicht darüber hinwegtäuschen, wer diesen Kulturkrieg gewonnen hat: der Westen. Zuerst haben wir ihnen Milliardenschecks fürs Erdöl ausgestellt, nun klopfen wir sie mit unseren Luxusgütern weich – und lassen uns die Milliardenschecks ausstellen, für die Betonmixer und Bentleys.
Daher das Paradox, dass wir uns im reichsten Staat der Welt über die schwersten Konflikte derselben unterhielten. Die politischen und kriegerischen Entwicklungen mögen variieren, genauso wie es die Gesellschaften tun. Aber allen lokalen Spielarten ist die Existenzkrise der arabischen Kultur und Gesellschaft gemeinsam, die sich in Bürgerkriegen, Diktaturen, radikalen Ideologien bis zum Terror der al-Kaida äussert. Qatars gesellschaftliche Leere hinter der glänzenden Verpackung macht diese Rückgriffe auf alte Muster von Konfliktaustragung und Ideologie verständlich.
Gutbezahlte Sklaverei
Vielleicht wäre mir dies nicht aufgefallen, wäre ich aus der Schweiz eingeflogen. Aber wer aus Indien kam, musste in den Rückspiegel schauen. Und was er da erblickte, war nicht nur das Elend der Dörfer und das Chaos der Städte, die viele Inder hierher, in die gutbezahlte Sklaverei, treiben. Es war auch die vibrierende Vitalität einer jungen Gesellschaft, die in der Kakophonie der Demokratie lebt und im emsigen Chaos ihre Stimme gegen den Wind setzt, unbekümmert um Risiken und Sicherheit, denn die meisten haben ohnehin nichts zu verlieren.
In den ersten fünfzehn Jahren nach der Öffnung der Wirtschaft war auch in Indien Unsicherheit und Angst zu spüren, wenig erstaunlich nach vierzig Jahren staatlicher Gängelung. Der wirtschaftliche Aufschwung war begleitet von der Identitätspolitik der Hindupartei BJP, die mit aggressivem Nationalismus und religiösen Dogmen Sicherheit schaffen wollte; auch die muslimische Minderheit igelte sich ein in ihrer Opferrolle.
Irgendwann zwischen 1990 und heute verschwand das Patt zwischen wirtschaftlicher Öffnung und ideologischer Abschottung, zwischen Aspiration und Ressentiment. Die demokratische Debattenkultur setzt nun auch im ländlichen Indien die Einsicht durch, es sei wichtiger, die Mädchen in die Schule zu schicken statt sie zu Hause den Hof wischen zu lassen; und das städtische Lumpenproletariat beginnt zu verstehen, dass es wenig Sinn macht, Busse anzuzünden, die sie zu ihren Arbeitsplätzen bringen.
Falls nicht alles täuscht, überwand die Hindutvawelle mit den Pogromen von Gujerat ihren selbstzerstörerischen Kulminationspunkt. Der Brandstifter Narendra Modi predigt heute Wirtschaftswachstum und gute Regierungsführung, auch wenn er sich (noch) nicht zu einer Abbitte durchgerungen hat. Im reichen Nahen Osten brennt es weiter lichterloh, und dies nicht nur vom abgefackeltem Erdöl, denn die Beseitigung eines Diktators macht noch keinen Frühling. Und der Wald von Baukränen in Doha erinnerte mich daran, dass der Sohn des grössten Bauunternehmers der arabischen Halbinsel Osama bin Laden hiess.