Regelmässigen Besuchern von London und New York wird dies kaum aufgefallen sein, denn dort gibt es "Pedicabs" schon seit über zehn Jahren, und auch in Zürich haben sie Eingang gefunden. Aber wenn sie im bedächtigen Bern angekommen sind, dachte ich, dann kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die Fahrrad-Rickscha nun weltweit als Transportmittel anerkannt wird.
Verstopfte Strassen
Weltweit – ausser in der Heimat des Worts "Rickscha" (die Tätigkeit selber kam ursprünglich aus Japan). Je häufiger sie in westlichen Städten auftauchen, desto mehr verschwinden die Rickschas aus den Strassen Indiens. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich auf Bombays Strassen das letzte Mal einer begegnet bin. Dafür wachsen die Busflotten, die PkW-Schlangen, werden Hoch- und Untergrundbahnen gebaut. Das Schwarz-Gelb der Taxis und dreirädrigen Motor-Rickschas ist der bestimmende Farbkontrast in vielen Grossstädten.
Dabei gebührt dem Fahrrad-Transport eine wichtige Rolle. Je mehr die Städte wachsen, desto mehr verstopfen sich die Strassen, nicht nur mit den Kolonnen der Vier- und Dreiräder. Es sind auch die Massen von Fussgängern, die durch das wahllose Parkieren und die vielen Kleinhändler immer mehr in die Strassenmitte gedrückt werden. Hier gibt es oft nur noch für eine Velo-Rickscha ein Durchkommen, umsomehr als auch die Gassen enger werden, je weiter sie sich von den Verkehrsschneisen in die riesigen Wohnkolonien und Slums hineinschlängeln.
Herr und Knecht
Doch der Staat zwingt seine Bürger lieber zum Laufen, als ihnen den fliegenden Wechsel auf ein Fahrrad zu gestatten. Wahrscheinlich ist es ein Reflex aus der Kolonialzeit. Das Bild vom weissen Beamten auf seinem Hochsitz, der von einem ausgemergelten Mann gezogen wird, war für Viele das auf seine Essenz komprimierte Symbol von Ausbeutung. Das freie Indien war ein Land von gleichberechtigten Bürgern, und solche Bilder von Herr und Knecht passten schlecht zum egalitären Ethos des neuen Staats. Es war wohl kein Zufall, dass die handgezogenen Rickschas aus Kalkutta die ersten waren, die nach der Unabhängigkeit verboten wurden.
Dieser anti-koloniale Reflex wurde bald von einem andern abgelöst, der nicht weniger radikal war. In einem Essay mit dem Titel "Cows, Cars and Cycle-Rickshaws" argumentiert die Soziologin Amita Baviskar, das Verbot sei auch Ausfluss des herrschenden Entwicklungsmodells. Ihm zufolge wird die informelle Ökonomie von Menschen, die ohne Schulbildung mit Gelegenheitsarbeit ihre Existenz sichern, allmählich abgelöst von immer komplexeren Organisationsformen der Arbeit, mit immer besserer Ausbildung und immer höherer Leistung; die informelle Ökonomie hat in einer modernen Volkswirtschaft nichts mehr zu suchen.
Vorsintflutliche Transportformen
Das Wunschbild der modernen Weltstadt reproduziert diesen Prozess, mit seinen gut ausgebauten Verkehrsverbindungen, den Schnellstrassen, Bahnen, Haltestellen, Parkhäusern. Alles ist darauf ausgerichtet, die zeitliche Vergeudung des Arbeitswegs möglichst kurz zu halten. Auch Indien hat sich diesem Modell der Moderne verschrieben, obwohl weiterhin 85 Prozent der Menschen im informellen Sektor tätig sind.
Der Städtebau mit seinen immer breiteren Strassen, Brücken, Hochhäusern ist ein sprechendes Beispiel dafür. Slums sind in diesem Diskurs "Pestbeulen", nicht etwa urbane Dörfer. Sie werden als illegal ausgesondert und müssen bekämpft werden. Zu ihnen gehören auch so vorsintflutliche Transportformen wie Rickschas.
Auf dem Rücken der ärmsten Bewohner
In zahlreichen Städten sind Fahrrad-Taxis heute verboten, oder sie werden mit stringenten Auflagen eben noch toleriert. Als NGOs begannen, sie als Transportform der Armen und als wichtigen informellen Erwerbszweig zu verteidigen, wehrte sich der Staat. Das tönt dann etwa so: „Fahrrad-Rickschas tragen nicht nur zur Verstopfung der Strassen bei“, argumentierte die Gemeindebehörde vor dem Obergericht von Delhi; „sie besetzen auch öffentlichen Raum, denn der typische Rickschafahrer ist arm und vermag kein eigenes Zuhause. Er lebt auf der Strasse, schläft auf der Rickscha, isst und wäscht sich auf dem Pflaster. Dies belastet nicht nur die Ressourcen der Stadt, es ermutigt sie auch, unerlaubte Wohnkolonien zu errichten und damit der Stadt soziale Probleme zu schaffen.“
Der Ausspruch stammt aus dem Jahr 2010 und zeigt, wie sich der Staat ins Zeug legen kann, wenn es darum geht, die Fiktion einer modernen ‚westlichen‘ Stadt aufrechtzuerhalten. Er tut es auf dem Rücken seiner ärmsten Bewohner, ungeachtet der Tatsache, dass ohne sie grosse Teile der Infrastruktur und Haushaltsökonomie zusammenbrechen würden.
Das Image des modernen Lebens
Eine Fiktion ist es auch deshalb, weil die Realität längst eine Eigendynamik entwickelt hat, nicht nur bei den wachsenden Slums. Bis 2010 waren in der Stadt Delhi nur 99‘000 Rickschas zugelassen; NGO-Umfragen kamen dagegen auf eine Zahl von 660‘000. Die Stadt sträubte sich nicht nur aus Gründen der Sozialkosmetik gegen mehr Zulassungen. Jeder Fahrrad-Kuli ohne Fahrlizenz macht sich erpressbar und zahlt der Polizei regelmässig "Hafta"-Schmiergeld, das ein Mehrfaches einer Lizenzgebühr ausmacht.
Doch nun findet ein Umdenken statt. Vor einigen Monaten hörte ich, dass Touristen in Delhis dichtgedrängter Altstadt um Chandni Chowk wiederum Fahrradrickschas mieten können, nachdem sie während Jahren aus dem Verkehr verschwunden waren. Die Begründung hatte gelautet, dass solche Transportformen dem touristischen Image eines modernen Landes schadeten. Man versuche es, einem Beamten klarzumachen, dass viele Reisende gerade diese Erfahrung geniessen; nicht nur können sie sich in diesem Chaos bewegen, sie tun es aus der abgehobenen Höhe eines Rickscha-Sitzes.
Arbeit, die das Überleben garantiert
Im November fuhr ich mit der neuen ‚Metro‘-Schnellbahn über den Jamuna nach Noida. Als ich ausstieg, standen vor dem Ausgang Dutzende von Velo-Rickschas sauber aufgereiht und warteten auf Kunden. Hellhörig geworden, erblickte ich bei der Rückfahrt an jeder Station Kolonnen von Velo-Rickschas. Zwar gleichen sie noch keineswegs den "Pedicabs", die ich letztes Jahr in Bern entdeckt hatte; es sind immer noch schwere Rohrgerüste ohne Übersetzung und mit einem schmalen Sitz. Aber ihre grosse Zahl unterstrich ein Fakt, das "Walmart"-Ideologen meist übersehen: Es mag nicht sehr produktiv sein, sich für ein paar Rupien in die Pedalen zu legen; aber es ist entlohnte Arbeit, die Überleben garantiert.
Der Gerichtsfall von 2010, bei dem sich die Gemeinde Delhi noch so vehement gegen die Sozialschädlinge ins Zeug legte, hatte den Umschwung ausgelöst. Das Gericht folgte damals der NGO, die argumentiert hatte, dass ihre Mandanten im Grunde genau den "Delhi Master Plan" umsetzten, der aus umweltpolitischen Gründen nicht-motorisierten Formen der Fortbewegung Priorität gibt. Zudem, so das Gericht, ergänzten Fahhrad-Rickschas auf ideale Weise das Transportangebot der Stadt, da sie die Feinverteilung auf der kritischen ‚letzten Meile‘ bis vors Wohnhaus übernähmen. Auch in Kalkutta hat man inzwischen hinzugelernt. Zum ersten Mal wurden dort wieder 6000 Lizenzen für "Rickshaw Pullers" ausgestellt. Die Armut hat den anti-kolonialen Reflex übertrumpft.