Doch was sie nicht alles vorweisen kann! Sechzehn Brücken verbinden die beiden Stadtteile, die Häuser sind zwar aus Zeltstoff, doch das Strassennetz von 156 Kilometern Länge besteht aus Stahlgitterplatten. Ein städtisches Polizeikorps von dreissigtausend Beamten sorgt für Ordnung, unterstützt von 72 Kompanien paramilitärischer Verbände. 120 Ambulanzen stehen bereit, 220 Ärzte, elf Krankenhäuser, eine Feuerwehr von 600 Männern. 35‘000 öffentliche Toiletten werden jeden Tag von einem halben Tausend Sanitärbeamten entsorgt. Und Coca Cola hat über 900 Fountains installiert.
Wieder einmal zeigen die Inder, was für Improvisationskünstler sie sind, wenn es darum geht, religiöse Inbrunst zu organisieren. Die "Kumbh Mela" von Allahabad ist, in den Worten des Guinness Book of Records, “the largest-ever gathering of human beings for a single purpose”. Das letzte Mal, vor zwölf Jahren, waren es 75 Millionen Menschen gewesen, die während des sechs Wochen dauernden "Fest des Nektarkrugs" die Mela besucht haben. Dieses Jahr könnten es zum ersten Mal 120 Millionen sein.
Verwunderung, Spott, Ehrfurcht
Am letzten Montag, dem ersten Tag der Kumbh, zählte man bereits 9.5 Millionen Pilger. Mehrere Hunderttausend waren mitten in der Nacht zum Zusammenfluss von Ganges und Jamuna geströmt. Sie warteten auf das erste Zeichen des Morgenlichts, auf die Hornstösse und Gebetsrufe der nackten und ascheverschmierten Nagas. Sie stürmten als Erste über den Ufersand und stürzten sich, genau am "Sangam" von Jamuna, Ganges und dem Saraswati ins Wasser. Dann wateten, auf einer Länge von mehreren Kilometern, die wartenden Pilger in den flachen Fluss, die Männer im Minislip des "Langhot", die Frauen in ihren Saris.
Einmal mehr hatten einige ausländische Touristen und Millionen Fernsehzuschauer Gelegenheit, den Kopf zu schütteln vor Verwunderung, Spott oder Ehrfurcht, über so viel Inbrunst und Frömmigkeit. Aus ganz Indien strömen die Pilger zusammen, alle drei Jahre, entweder in Allahabad, Hardwar, Ujain oder Nashik, um die günstige Konstellation der Gestirne zu nutzen, diesem kleinen Fenster des Universums, das ihnen Einblick – und vielleicht Eintritt – ins unsterbliche Leben gibt. An diesen vier Orten hatte Gott Indra ein paar Tropfen des Nektars der Unsterblichkeit verschüttet, als er ihn in einem Krug – "Kumbh" in Sanskrit – entführte.
Jede Stadt ist einmal alle zwölf Jahre an der Reihe. Aber es ist in Allahabad, dem "Sangam" von zwei heiligen Flüssen, wo sich die Potenz dieser Tropfen am stärksten auswirkt, nicht zuletzt, weil sich noch der mythische Saraswati-Fluss mit ihnen vereinigt; dass dies nur im "Untergrund" geschieht, tut dem Ganzen keinen Abbruch – im Gegenteil, er gibt dem Zusammenfluss womöglich eine noch grössere Kraft, genauso wie es das tölpelhaft-ungeschickte Verhalten des Gottes beim Verschütten des kostbaren Nektars war, das den Menschen ein Tor zur Unsterblichkeit öffnete.
Den ganzen Tag im Wasser stehen und beten
Ein Paradox ist auch die ausserordentliche logistische Leistung, die dem Pilger diesen Moment der Hingabe an eine andere Kraft nahebringt. Wie bringen es die Inder zustande, während sechs Wochen 100 Millionen Menschen heranzukarren, unterzubringen, zu verpflegen, vor Krankheiten zu bewahren oder diese zu kurieren? Nicht zu reden vom "Crowd Management", denn die Gläubigen kommen nur für einen Zweck und für einen Ort: Das tägliche Bad im Wasser.
Es läuft ja nicht so mechanisch ab wie etwa in der Grotte von Lourdes, wo der schlangestehende Pilger von starken Helfern in einen nassen Bademantel gesteckt, einen Stein-Zuber getaucht und in zwei Minuten seines Wegs geschickt wird. Der Kumbh-Besucher kann den ganzen Tag im Wasser stehen und beten, kann am Ufer meditieren, kann dort oder auf den Zeltplaetzen der Akharas religiösen Unterweisungen folgen. Im dichten Gedränge von Kommen und Gehen ziehen die Frauen, schamhaft und mit grossem Geschick (und oft unter Gekicher) ihre nassen Kleider aus und stülpen frische über Kopf und Beine. Nebenan sitzt der Sadhu, umringt von Touristen-Kameras. Seit zwanzig Jahren hält er einen Arm in die Höhe, von dem inzwischen die Fingernägel wie die Luftwurzeln eines Banyanbaums herunterhängen. All dies müssen die Ordnungshüter respektieren, wenn aus den Zeltstrassen mehrere tausend Leiber sich auf das Ufer zu wälzen und sich mit den triefenden Gestalten vermengen, die aus dem Bad steigen.
Masse von Leibern
Ich habe der Kumbh Mela nur einmal beigewohnt, und dies in der kleineren Version in Hardwar. Für mich war es eine dieser Mutproben, die man einmal in seinem Leben über sich ergehen lässt, um dann sagen zu können: Ich kam lebend davon. Die Inbrunst der Menschen war berückend und bedrückend, vielleicht auch, weil ich mich in dieser Masse von Leibern für einen beängstigenden, überschwänglichen Augenblick als Teil eines kollektiven Ich spürte. Aber jeder Anflug von Massenhysterie verschwand sogleich wieder, denn das Ganze kippte immer wieder in eine ausgelassene "Mela", ein ‚Jahrmarkt‘, um – und wieder zurück. Das Sakrale und das Profane vermischten sich reibungslos, jede asketische Leistung wurde sofort auch zur Ware.
Selbst die beispielhafte Organisation einer derartigen Massenveranstaltung ist ein Wechselbad von Gefühlen. Meine Bewunderung für die beinahe heroische Leistung wurde damals von der Frage verdrängt: Woher nehmen die Inder die Fähigkeit, mit derart ausserordentlichen Herausforderungen glatt fertig zu werden – aber das Management des Alltags bewältigen sie nicht? Man muss nicht lange nach Beispielen für den Widerspruch suchen: Das Wasser von Ganges und Jamuna, den beiden Stars der Kumbh, hat wenig vom Nektar des Unsterblichen, das die Millionen Badenden in sie projizieren; was es in Überfülle hat, sind Infektionsträger, die nicht selten tödlich sind.
“Schwer gesundheitsgefährdend“
Der "Indian Express" berichtete kürzlich, bei einer Wasserprobe am Zusammenfluss im vergangenen Mai habe der "BOD"-Stand 7,3 mg/lt. betragen (BOD steht für "biological oxygen demand"), zweimal so viel wie das Maximum, über dem jedes Baden "schwer gesundheitsgefährdend" wird. Koli-Partikel erreichten 8000 MPN/dl., sechzehnmal mehr als das erlaubte Höchstmass. Dies ist der Gesundheitszustand der heiligen Flüsse 26 Jahre, nachdem sie der Staat mit einem Aufwand von insgesamt 82 Mia. Rupien (rd. 1,5 Mrd. Fr.) zu reinigen begonnen hat. Doch was verstehe ich schon von diesem kosmischen Spiel? Als ich in Hardwar eine Pilgerin auf die Verschmutzung aufmerksam machte, weil sie eine Plastiktüte mit verfaulten Girlanden ins Wasser geworfen hatte, war sie um eine Antwort nicht verlegen: „Haben Sie schon einmal von Pilgern gehört, die krank wurden, weil sie Gangeswasser tranken? Ganga ist doch voll göttlicher Energie! Sie reinigt sich von selber!“