Es gab auch tatsächlich wunderliche Sachen zu erleben. Denn wie erklärt man einem ausländischen Gastgeber, dass unser Innenminister – der „Vorsteher des Departements des Inneren“ – gar keiner ist, jedenfalls nicht im Sinne, wie die meisten Staaten ihn verstehen, nämlich der Mann fürs Grobe, zuständig für Sicherheit und Ordnung im Land. Vielleicht hätten die Inder es merken müssen. Denn wie ein Polizeiminister sieht Berset wahrhaftig nicht aus. Nichts Stiernackiges lässt sich bei ihm ausmachen, auch keine Verschlagenheit. Im Gegenteil, Alain Berset hat die Contenance eines Intellektuellen, eines Lehrers oder Violonisten etwa; er ist unaufdringlich und doch elegant gekleidet, postmodern in seiner glattrasierten Kopftracht; er schweigt überaus klug, und wenn er redet, dann setzt er kurze Sätze, die oft in vielsagenden Fragezeichen enden. Also der ideale Minister für Kultur, Erziehung, Wissenschaft, Forschung und Gesundheit, und, der Vollständigkeit halber, für Sozialversicherungen.
Makro-Bewässerung, Mikro-Bewässerung
Nicht nur heissen alle diese Ressorts ‚Departement des Inneren‘, sie bilden zudem ein einziges Ministerium. Die Inder hatten also zusätzlichen Anlass, sich zu wundern. Denn hierzulande werden Kabinettsposten wie Dutzendware aufgeteilt und kurzerhand neu verpackt, falls die Vizeministerjobs bereits vergeben sind und auflüpfige Regierungspartner immer noch arbeitslos herumstehen. Ist das Bewässerungs-Portefeuille bereits vergeben? Schaffen wir doch zwei, eins für Makro- und eins für Mikrobewässerung; ein Ministerium für ‚Surface Transport‘, eins für Binnen-Wasserwege, eins für Hochseeschifffahrt. Und wenn’s immer noch nicht reicht, dann wird vom Gesundheitsministerium eins für Veterinärwesen ausgesondert.
Zugegeben, ich beschreibe hier Zustände, wie sie in indischen Landesparlamenten vorkommen, wo es auch schon Kabinette von über hundert Ministern gegeben hat, praktisch für jeden Abgeordneten einen Posten. Aber viele Minister in Delhi sind ja auch Lokalpolitiker und kennen solche Verhältnisse. Wie mögen sie gestaunt haben, als hier ein Minister landete und gleich drei Kabinettskollegen die Aufwartung machte; nur nicht, obwohl er Innenminister hiess, seinem Namensvetter. „Für einen Innenminister kennen Sie sich in Gesundheitsfragen aber gut aus“, soll der Gesundheitsminister Berset komplimentiert haben.
Animal politique
Es war ein Arbeitsbesuch. Unser Departementschef sorgte dafür, dass eine Reihe von Zusammenarbeitsprogrammen – im Bereich der Forschung namentlich, aber auch der Erziehung – in Delhi die nötige Aufmerksamkeit erhalten; er öffnete Türen für seine Beamten und Vertreter schweizerischer Institutionen aus Bildung und Gesundheit, kurz, er zeigte Flagge. Dies mag (und sollte) für eine Notiz in der NZZ gut genug sein. Aber kann ein solcher Besuch eine Kolumne von ozeanischer Zeilenzahl füllen?
Die Berset-Visite hatte mir die Einladung des Botschafters zu einem Arbeitsessen des Bundesrats mit einigen Vertretern der Zivilgesellschaft verschafft, bei dem ich das Gespräch moderieren durfte. Es war eine angenehme Aufgabe. Die Inder waren wie erwartet intelligent und witzig, die Fragen der Schweizer Vertreter waren sachkundig und höflich. Und im Hauptgast hatten wir einen Bundesrat, der sein Interesse an allen möglichen Themen äusserte. Seine Fragen und Kommentare bewiesen den indischen Gesprächspartnern, dass er wie sie ein ‚animal politique‘ ist.
”Expect the Unexpected”
Ich konnte mich damit zufrieden geben, den Ball hin und her zu spielen und den Abend zu geniessen. Aber dies hatte ich zuvor nicht gewusst. Und da ein Moderator immer von einem ‚worst case‘-Szenario ausgeht, hatte auch ich zur Sicherheit ein paar Sätze vorbereitet, um peinliche Pausen zu überbrücken oder ein abruptes Ende zu vermeiden. Es wäre mir auch, ich bekenne es, gelegen gekommen, meinen Reim über das Wunderland Indien zum Besten zu geben.
Ich hätte vom kleinen Erlebnis erzählt, das mir am Morgen der Abreise aus Alibagh widerfahren war. In der Nacht hatte es heftig geregnet. Der Sturm hatte einen Strommasten gefällt und den Fahrweg vor unserem Haus blockiert. Ich machte mir schon Sorgen über meine Reise nach Delhi, überzeugt, dass es Tage, wenn nicht Wochen dauern würde, bis die Stahlkabel getrennt und der Betonmast beiseite geschafft wären. ‚When in India, expect the Unexpected’. Freiwillige Helfer waren bereits frühmorgens aufgetaucht, Schneidwerkzeuge wurden herangeschafft, und sogar ein Räumungsfahrzeug war bald zur Stelle. Nach zwei Stunden konnte ich hinderungsfrei mit dem Auto passieren und rechtzeitig meine Fähre erreichen.
Neuer Reformschub
Wieder einmal hatte mich Indien erwischt und einmal mehr bewies es mir, dass seine Bürger die weltbesten Krisenmanager sind. Ich hätte es wissen müssen. Von den Naturkatastrophen etwa, wenn der Monsunregen die ganze Stadt Bombay lahmlegt – oder dies tun sollte, wären da nicht die Millionen Pendler, die stundenlang zu Fuss zur Arbeit gehen. Ich sah es bei den Unternehmern, die überall auf der Welt marode Betriebe zusammenkaufen – und dann gleich sanieren. Mein Bekannter Vikram Thapar etwa, der im belgischen Mechelen eine abgewirtschaftete Maschinenfabrik – den grössten Arbeitgeber der Stadt – kaufte. Nach drei Jahren hatte er sie in die Gewinnzone zurückgeführt, so überzeugend, dass ihn der Stadtrat zum Ehrenbürger ernannte. Oder der Stahlkocher Lakshmi Mittal, oder die Tatas, die Ford Motors für 2.1 Mia $ die schliessungsbedrohte Firma Jaguar Land Rover abkauften. Im vergangenen Jahr machte JLR 1.5 Mia.$ Gewinn.
Ich hätte den Gästen auch einen unerwarteten Zeugen präsentiert, den indischen Staat. 1991 war er bankrottreif verschuldet. Der IWF war nur bereit, einen Stützungskredit zu gewähren, wenn die Zentralbank ihre Goldreserven physisch nach Basel transportierte und als Garantie in der ‚Bank für Internationalen Zahlungsverkehr‘ hinterlegte. Es war der Beginn eines Aufschwungs, der der indischen Wirtschaft zum ersten Mal nahezu zehn Prozent Wachstum bescherte. Und soeben hat der damalige Finanzminister einen neuen Anlauf genommen. Mit einem neuen Reformschub will Manmohan Singh die Wirtschaft aus dem Schlamassel holen und verhindern, dass die Rating-Agenturen das Land auf Schrott-Status zurückstufen.
Wie Alice im Wunderland
Doch Halt – wie kommt es, dass dem Land, eben noch ein High Flyer der globalen Wirtschaft, schon wieder der Bankrott droht? Es ist die Kehrseite guten Krisenmanagements, das Problem beim Slogan ‚No problem‘. Weil die Inder sich so gut in Form laufen, wenn alles schiefläuft, lassen sie alles zuerst in die Krise schlittern. Dann erwachen sie, wie Alice im Wunderland, flicken die Segel, stopfen die Lecke und bringen das Schiff im letzten Moment wieder auf Kurs. Als schweizerischer Innenminister hätte Alain Berset diese irre Logik wohl kaum verstanden. Aber als Minister für Sozialversicherungen hat er bestimmt ein feines Ohr dafür.