Selbst instrumentale Stücke wie Partiten und Suiten aus der Barockzeit enthalten oft Sätze, die mit „Aria“ bezeichnet sind. Wenn man alle von Johann Sebastian Bach als „Aria“ überschriebenen Musikstücke zusammenzählen würde, müsste er als einer der raffiniertesten und erfolgreichsten Arienkomponisten aller Zeiten bezeichnet werden, obwohl er doch gar keine „Opernarien“ geschrieben hat. Kein Arienliebhaber sollte vergessen, dass Bachs sogenannte „Goldberg-Variationen“ im Druck von 1741 als „Clavier Ubung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“ betitelt wurden.
Bachs Kantatenarien
Das Kantatenwerk Bachs ist so reich an Arien, dass selbst kühl-rationalen Bachforschern das Hören und Sehen vergeht, wenn sie sich dieser Fülle ausgesetzt und mit ihr konfrontiert sehen. Kaum einen Gedanken, kaum ein Gefühl im menschlichen Körper, kaum eine Überzeugung, einen Schmerz, eine Not oder eine hoffnungsvolle Erwartung gibt es, für welche Bach nicht eine Umsetzung in Töne gesucht und gefunden hätte.
Bachs Arien aus seinen Kirchenkantaten sind in der Regel geschickt eingebunden in lutherisch-evangelische Liturgien, wobei er neben der Predigt und dem gemeinsamen Singen von Chorälen durch das Kirchenjahr hindurch auch phantastisch freie und kühne Momente für Meditation und Insichgehen der christlichen Seele eingeplant hat. Der grosse Meister wusste bis zum Ende seiner Tage ganz genau, mit welchen musikalischen Mitteln man Wirkung, Rührung und Zerknirschung, aber ebenso jubelnde Dankbarkeit und Lebensfreude erzeugt.
Bach war gewiss gottgläubig und fromm genug, um gewichtige Worte der Bibel, aber auch lutherischer Theologie und pietistischer Dichtung ebenso phantasievoll neu wie meisterhaft virtuos in Musik erklingen zu lassen. Viele seiner Kantatenarien sind deshalb von so bezaubernd verführerischer Schönheit, so voll sinnlicher Glut und einschmeichelnder Magie, dass sie vollkommen vergessen lassen, dass wir uns in der Kirche befinden. Manchmal scheint er unseren Ohren vorzaubern zu wollen, wie man sich den Himmel auf Erden vorzustellen hat.
Eine Adventsarie
Für den ersten Adventssonntag hat Bach insgesamt drei Kantaten geschrieben, in welchen Luthers Choral „Nun komm, der Heiden Heiland“ eine zentrale Rolle spielt. Dabei ist die letzte mit dem Titel „Schwingt freudig euch empor“ (BWV 36) aus dem Jahr 1731 besonders interessant, weil Bach hier vor Weihnachten zur Erzeugung einer festlich-freudigen Erwartung von Christi Geburt besonders jubelnd in die Saiten und Tasten greift. Hier verbreitet er eine Stimmung, die den Zuhörenden so vorkommt, als drängten Vorstrahlen und strömte Vorwärme von Christi Erlösungswerk durch dessen Menschwerdung bereits zu allen Kirchentüren herein.
Wie oft für andere Gelegenheiten hat Bach auch hier auf weltliche Musik zurückgegriffen, die er für den Geburtstag eines Lehrers in Leipzig und jenen einer Fürstin aus Köthen einige Jahre früher geschrieben hatte. Und doch klingen die strengen Choralstrophen von Luther und Nicolai, eingebaut zwischen einem für die Chorsänger halsbrecherisch schwierigen Eingangschor und den drei neu platzierten Arien so voll von Licht und Glanz, aber auch von Innigkeit und Anteilnahme, dass man es gleich spürt: hier, in dieser Verarbeitung seiner Gelegenheitsmusik, finden diese nun zur endgültigen Form und Gestalt in einer Kirchenkantate. Frömmigkeit, Glück, Lobpreis Gottes und arienhaftes Jubeln über die Gotteskindschaft der Gläubigen ergänzen sich in vollkommener Vielgestalt.
Was sind schwache Stimmen?
Die Arie, die ich hier als Monatsarie vorstellen möchte, ist vermutlich von Picander, Bachs Hauptdichter seit den späteren 20-er Jahren in Leipzig, für die Adventskantate umgedichtet und eingerichtet worden. Ihr Text lautet in seiner Gesamtheit:
Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen
wird Gottes Majestät verehrt.
Denn schallet nur der Geist darbei,
so ist ihm solches ein Geschrei,
das er im Himmel selber hört.
Die hier singende Sopranistin hat keineswegs eine schwache und mangelhafte Stimme. Ganz im Gegenteil, diese ist sogar zauberhaft schön, von einer Frische, Jugend und Intonationsreinheit, wie man sie sich nicht besser wünschen könnte. Der Gedanke hinter dem seltsamen Text ist, dass jeder sündige Mensch vor Gott nur eine „gedämpfte und schwache Stimme“ hat. Weil er eben ein Sünder ist. Wo aber Gottes „Geist“ mitschallet, der den sündhaften Menschen in seinem Gottvertrauen bestärkt und beflügelt, da entsteht im Himmel so „ein Geschrei“, dass Gottes Majestät nicht mehr weghören kann. Für sich allein ist der Mensch schwach. Wo der rechte Geist ihn jedoch beflügelt, fängt seine Stimme zu jubeln an, seiner Schwachheit zum Trotz!
Wie diese schöne Musik klingt, wenn sie im Himmel ankommt, führt uns – in der hier empfohlenen Aufnahme – Nuria Rial vor, begleitet von der sordinierten, das heisst gedämpften Sologeige von John Holloway und gestützt von einem in seiner Unaufdringlichkeit raffiniert präsenten Continuo-Ton. Bach verbindet hier die Lyrik und den zarten Zauber der Violinstimme so wundersam mit jenem der Sopranstimme, dass man einem Wettspiel, einem Wettrufen und regelrechten Wettwecken zwischen zwei scheuen Liebenden beizuwohnen glaubt. Sie scheinen einander zu gängeln, herauszufordern, zu necken, liebevoll wieder zu imitieren.
Und doch erleben wir, wie im Himmel Gottes Majestät für eine Weile ganz still und zurückhaltend wird, weil von der Erde hoch so unvergleichlich gottgefällige Töne, nicht polternd angeberisch und schreiend, sondern innig bittend mit gedämpfter, aber in jedem Ton gefühlter Stimme erklingen. Eine Musik, wie sie in meinen Ohren nur J.S. Bach schreiben konnte, um mit ihr nicht nur auf Erden, sondern selbst im Himmel bei Gottes Majestät Gehör zu schaffen.