Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Kailash Satyarthi hat dort am meisten Erstaunen ausgelöst, wo sie eigentlich eine überfällige Selbstverständlichkeit war. In Indien kennt man natürlich Malala Yusafzai. Aber: ‚Kailash ...Who?’ Die Würdigungen in den Medien glichen eher einer verzweifelten Suche nach Informationen zu dieser unbekannten Berühmtheit. Gleichzeitig streuten sich die Medien Asche aufs Haupt. Vor lauter Zelluloidhelden, klagten sie, ignoriert die Öffentlichkeit (d.h. sie selber) die wirklichen Heroen.
Sie waren ehrlich genug, den Grund anzuerkennen: Es ging nicht um die Person von Satyarthi. Es gibt hunderte von Satyarthis, die irgendwo in diesem weiten Land völlig anonym arbeiten. Die Augen verschliesst man nicht vor ihm, sondern vor seiner Tätigkeit: dem Kampf gegen Kinderarbeit.
Hilflose Resignation
Doch moralische Entrüstungsrufe aus der Gegend europäischer Sofa-Sets sind wenig hilfreich. Was dort als soziale Kälte hinüberkommt, ist eher hilflose Resignation, gefolgt von – das ist allerdings wahr – Amnesie und Indifferenz. Es ist wie bei so vielen Greueln in diesem Land: Sie sind so alltäglich, dass man quasi betriebsblind wird (Beispiel von heute Morgen, vergraben in einer kleinen Zeitungsmeldung: Von Januar bis September starben in Bombay 1‘108 Menschen als Opfer von Vorortszügen: Ein Verkehrsmittel, ein Ort, drei Tote pro Tag).
Bei der Kinderarbeit ist es auch ein echtes Dilemma. Meistens ist sie ja nicht Ausdruck fehlender Elternliebe. Was fehlt, sind die Bedingungen, die solche Elternliebe erst entfalten lassen: ein Grundeinkommen, das der Familie erlaubt, die Kinder zu ernähren, zu kleiden und in die Schule zu schicken. Wenn es darum geht, zu überleben, schaut Schulunterricht plötzlich wie Luxus aus; und ein handfertiges Kind einfach zuhause spielen zu lassen wie eine Verschwendung von Talent.
Jeder zweite Haushalt hat eine „Kleine“
Kommt hinzu, in dieser weitgehend immer noch armen Gesellschaft, dass viele Menschen traditionellen Tätigkeiten nachgehen. Sie folgen dabei einer Wissensvermittlung aus Zeiten, in denen Schulbildung noch das Privileg einer kleinen Elite war: ‚On the Job’-Training, lange vor dem Begriff. Und so wie wir nichts dabei finden, Siebenjährige in die Schule zu schicken (ist das nicht Kinderarbeit?), nimmt ein Tagelöhner sein Kind eben in die Ziegelei mit und lehrt es, Formen mit Lehm zu füllen, Ziegel zu schichten und Lehmhügel zu feuern.
Wenn man einer solchen Kindheit das Kleid der Modernität überstülpt, sind wir bei der städtischen Hausarbeit. Jeder zweite Haushalt hat einen ‚Chotu’ oder eine ‚Choti’ – eine ‚Kleine’ – mit ihren Handreichungen: die Nachbarin um eine Prise Salz bitten, der Schwiegermutter die Füsse massieren, den Abfall entsorgen. Es ist Ausbeutung, ohne Zweifel, denn in den wenigsten Fällen wird solche Arbeit durch ein regelmässiges Gehalt entlöhnt. Und es ist Lebensschule, auf einem tiefen, harten, aber immerhin überlebensfähigen Niveau. Das Wiegenlied ist immer dasselbe: Geld verdienen heisst überleben.
Maya, das Bettelkind
Zynismus? Wie viele Mittelklasse-Inder haben auch wir versucht, uns diesem Dilemma zu stellen. Als wir in Delhi wohnten, kam bei der Kreuzung ‚IIT Gate’ oft ein kleines Mädchen auf unser Auto zu und bettelte. Sie hiess Maya und war anders als die andern Bettelkinder. Nicht nur besass sie ein Engelsgesicht, sie lachte und liess sich gern in ein Gespräch verwickeln.
Wir fanden heraus, dass ihre Eltern ebenfalls an der Kreuzung ‚arbeiteten’, mit Maya und ihren drei Geschwistern im Schlepptau. Wir beschlossen, für Maya eine Schule zu finden. Wir besuchten die Eltern im Slum von RK-Puram, erhielten ihr Einverständnis. Die Lehrerinnen der TARA-Schule waren begeistert vom achtjährigen Kind – Maya war intelligent, strahlte immer, und hatte eine Leichtigkeit im Umgang wie sonst nur viel ältere Mädchen.
Asha
Dann war sie plötzlich weg. Ihre Familie kehrte ins Dorf nach Rajasthan zurück, wie sie das alle paar Jahre tat, und als sie zurückkam, stand Maya wieder unter dem IIT-Flyover und bettelte. Sie lachte verschämt, als wir sie zur Rede stellten. Wir machten einen zweiten Anlauf, und nach einigen Monaten war sie wieder verschwunden, tauchte erneut an der Kreuzung auf. Sie müsse eben die kleinen Geschwister hüten, während die Eltern arbeiteten, erklärte sie. Und übrigens: sie werde wohl bald heiraten. Sie war vielleicht zwölfjährig. Kurz darauf war sie endgültig weg.
Später, als wir nach Bombay zogen, lernten wir Asha kennen, aus dem nahen Indiranagar-Slum in Bandra. Sie war etwas älter als Maya, aber auch sie hatte ein süsses Lächeln, nannte meinen Schwiegervater ‚Uncle’, und liess sich von ihm mit Biskuits und einem gelegentlichen Zustupf verwöhnen. Sie lebte in sehr schwierigen Verhältnissen – die Mutter war mit einem andern durchgebrannt, der Vater Alkoholiker, die beiden älteren Brüder kleine Strolche. Und sie wohnten in einem dunklen Loch.
Dann war auch sie weg
Wir vermittelten Asha an eine NGO, die eine Tageskinderstätte unterhielt. Dort spielte sie mit den Kleinen, gab ihnen zu essen, reinigte Geschirr und Boden. Gleichzeitig erhielt sie Schreib- und Leseunterricht. Auch sie hielt es nicht lange aus. Bald war sie wieder im Slum, verschwand von der Bildfläche, tauchte wieder auf. Wiederum brachten wir sie zur NGO, der Leiter, ein katholischer Priester, nahm sich ihrer an. Wiederum brannte sie durch. Dasselbe geschah ein drittes Mal, und dann war sie ganz weg.
Auch Rajkumar war, aus einem Dorf in Uttar Pradesh, im Indiranagar-Slum gelandet, bei einem Onkel, der als ‚Dhobi’ auf den Strandfelsen von Bandra Kleider wäscht. Auch er hatte es meinem Schwiegervater angetan – Kekoo hatte ein grosses Herz – und er lungerte vor dem Haus herum, ein Rotzbengel, der nichts tat. Die andern Angestellten vertrieben ihn, er kam zurück, hartnäckig, trotzig-selbstbewusst, obwohl er kein Wort lesen oder schreiben konnte.
Mit einem Baby im Arm
Dann biss er plötzlich an. Er putzte die Autos, brachte Milch und Zeitungen in die Küche. Mein Schwager Adil liess ihn Besorgungen ausführen, gab ihm Hemd und Hose. Nun gehörte er zum Hauspersonal, schlief auf dem Boden, dann in einem kleinen Vorratsraum. Adil nahm ihn ins Geschäft mit, wo er zum Ausläufer und Teaboy aufstieg. Dann schickte er ihn in die Fahrschule. Heute ist er Adils Chauffeur, trägt Brille, Safari-Hemd. Er lernt den Stadtplan lesen, und Englisch im Selbstunterricht.
Von den Drei hat nur Maya eine Schule von innen gesehen. Asha sprach Englisch, als ich sie zum letzten Mal sah. Und Rajkumar, der wohl bald zwanzig wird, kann hoffen, eine Familie zu gründen und zu ernähren. Kürzlich war ich in Delhi. Auf dem Weg zum Flughafen wartete mein Taxi bei einem Rotlicht. Durchs Fenster vernahm ich die Stimme einer Bettlerin. Ich schaute nicht auf, weil ich manchmal keine Lust habe, mit dieser Realität konfrontiert zu werden. Plötzlich hörte ich ‚Sir, IIT-Gate, Sir, Sir, IIT-Gate’. Es war Maya, immer noch mit dem Engelsgesicht, immer noch lachend, immer noch kindlich. Und mit einem Baby auf dem Arm.