Eine der diskreteren Sektionen im Programmangebot des Festivals heisst Cannes Classics; dieses Jahr werden im Rahmen der Reihe unter anderem Akira Kurosawas «Seven Samurai» zu sehen sein sowie «Bye Bye Brasil» von Carlos Diegues, dessen Produzentin, die Brasilianerin Lucy Barreto, bei der Gelegenheit für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wird.
Falls diese Rückblicke auf die Filmgeschichte eine Neukalibrierung der ästhetischen Massstäbe bezwecken sollen, so hat das Festival dies mit dem Eröffnungsfilm erreicht: Die Projektion des ersten Teils von «Napoléon vu par Abel Gance», immerhin 227 Minuten lang (insgesamt kommt der Film auf eine Länge von sieben Stunden), hat dank der restaurierten Kopie eine Wucht entfaltet, wie sie nur von Ausnahmewerken erreicht werden kann.
Erstaufführung 1927
Wobei der Eindruck umso stärker ist, als die mittlerweile ein Jahrhundert alte Inszenierung seit ihrer Uraufführung in der französischen Öffentlichkeit nie mehr in der von Gance geplanten Form zu sehen war: Nach der Erstaufführung einer knapp vierstündigen Version im April 1927 in der Pariser Oper konnte der Regisseur zwei Monate später eine über neunstündige Fassung seines Werks im Kino Apollo projizieren lassen.
Die von Gance als definitiv erachtete Montage wurde im November 1927 fertiggestellt; um den Umsatz zu erhöhen, zeigten die Kinobetreiber und die Verleihfirmen jedoch neu geschnittene und meist stark verkürzte Formate. Eine der seltenen werkgetreuen Projektionen von «Napoléon» fand 1981 in der New Yorker Radio City Music Hall statt, als Francis Ford Coppola, ein bekennender Bewunderer von Abel Gance, den Saal mietete, um den Film – begleitet von einer seinem Vater Carmine Coppola in Auftrag gegebenen Partitur – dem amerikanischen Ostküstenpublikum präsentieren zu können.
Auferstehung eines Monumentalwerkes
Die heutige Version des Films ist das Resultat einer langjährigen und minutiösen Wiederherstellungsarbeit: In Abwesenheit eines richtungsweisenden Negativs und angesichts der meist schlecht konservierten Kopien mussten fünfzehn Jahre Arbeit und ein Etat von vier Millionen Euro investiert werden, um dem Werk eine Auferstehung zu ermöglichen. Wobei sich diese Investition vom filmhistorischen Standpunkt fraglos gelohnt hat: Die Einstellungen, von den Altersflecken befreit, sind gestochen scharf, die teils blau und rot eingefärbten Sequenzen erstrahlen in neuem Glanz. Die sorgfältige Rekonstitution des originellen Schnitts lässt auch das stupende Rhythmusgespür der Regie erkennen: Den in langen Bögen konstruierten Szenen liegt ein Bauplan zugrunde, der sich erst mit der vollständigen Länge des Werks erschliesst.
Die in Kapitel gegliederte Biografie des zukünftigen Kaisers beginnt mit einem Prolog über dessen Kindheit im katholischen Internat in Brienne (die zugleich den Vorwand liefert für eine epische Schneeballschlacht) und endet mit der Rückeroberung des Hafens von Toulon, die das strategische Genie des damaligen Artilleriebefehlshabers unter Beweis stellen soll. Die Flucht aus Korsika bietet Anlass zu einer stupenden Verfolgungsjagd und kulminiert in einer Parallelmontage zwischen Bildern von Napoleons Überquerung des windgepeitschten Mittelmeers und Sequenzen der nicht minder stürmischen Debatten im Pariser Nationalkonvent.
Lyrische Exzesse im Stil von Stendhal und Victor Hugo
Man braucht kein Historiker zu sein, um Zweifel an Gances Geschichtsbild zu hegen. Die Tricolore als Symbol der nationalen Einheit erscheint anachronistisch, auch die Szenen mit dem korsischen Adler, die die Truppeninsignien der späteren Grande Armée vorausnehmen, sind vermutlich der Zeit geschuldet. Insgesamt gibt der unüberhörbar melodramatische Grundton jedoch auch einen interessanten Einblick in die geistigen Einflüsse, die den Regisseur geprägt haben müssen: Auch wenn sich viele Zwischentitel auf authentische Quellen beziehen, scheinen sich die lyrischen Exzesse in erster Linie am Stil von Stendhal und Victor Hugo zu orientieren.
Relevanter ist ohnehin die ästhetische Präzision: Zweifellos bildet «Napoléon» einen Höhepunkt der Stummfilmproduktion, vergleichbar allenfalls mit «The Birth of a Nation» von David W. Griffith und Erich von Stroheims «Greed». Kurz vor der Erfindung des Tonfilms entstanden, zeugt er zudem von einer stilistischen Virtuosität, die den in den folgenden Jahrzehnten inszenierten Filmen in nichts nachsteht: Man denkt wahlweise an die soziale Psychologie Eisensteins, an das Gespür für das Drama von Victor Fleming, an die lyrische Sensibilität von Murnau.
«Die Seele der Bilder»
Tatsächlich scheint sich Gance der gesamten filmischen Grammatik zu bedienen: Souverän schneidet er von Nahaufnahmen von Gesichtern auf Landschaftstotalen, von visuellen Spezialeffekten auf extravagante Kamerabewegungen, von einer avantgardistischen Cadrage auf Bilder, die an Stillleben erinnern. Als der zukünftige Exilant von Ajaccio sinnierend auf das wogende Meer blickt, meint man, ein Gemälde von Caspar David Friedrich zu sehen.
«Napoléon» kann mit seiner Akkumulation von Bravourstücken und orchestrierten Passagen an eine italienische Oper des 19. Jahrhunderts erinnern. Die innere Ergriffenheit, die sich auf den Gesichtern der Figuren beim Anhören der «Marseillaise» spiegelt, mag heute schwer nachvollziehbar sein, doch das expressionistische Spiel der Akteure, allen voran Antonin Artaud in der Rolle von Jean-Paul Marat, verleiht der Inszenierung noch heute eine ungeahnte Evokationskraft: Nicht die Bilder seien wichtig, war das Credo des Regisseurs, sondern «die Seele der Bilder». Und: «Die Kunst des Kinos ist noch im Entstehen begriffen.» Dieser Entstehung mit hundertjähriger Distanz erneut beizuwohnen, grenzt an ein Wunder.
Am 4. und 5. Juli werden die beiden Teile von «Napoléon vu par Abel Gance» in einer vom Orchestre Philharmonique de Radio France begleiteten Aufführung im Konzertsaal «Seine Musicale» in Boulogne Billancourt bei Paris zu sehen sein, ebenfalls im Juli sollte Gances Meisterwerk auch auf Netflix verfügbar sein.