Gemäss dem Axiom, dass in Indien immer auch das Gegenteil wahr ist, ist es aber auch das Land der Disputation, in der jeder Glaube als Aberglaube gebrandmarkt und mit wissenschaftlichen Experimenten entlarvt wird. Gurus mögen Golduhren aus dem Ärmel schütteln, Götter Milch trinken, Tempel versprechen Krebsheilung, wenn sich der Patient im Vorhof in faulenden Essresten wälzt, oder wenn das kranke Organ in Gold gegossen und dem Allerheiligsten vor die Füsse gelegt wird.
Doch immer hechelt ihnen auch der ‚Indian Rationalist‘ hinterher, eine kleinformatige Monatszeitschrift, die jedes angebliche Wunder experimentell ad absurdum führt und in öffentlichen Veranstaltungen das Nagelbrett-Sitzen physiologisch dekonstruiert.
Tod auf der Brücke
Während wir Christen im Westen den Widerspruch zwischen Glauben und Rationalität bequem übertünchen, wird der Glaubenskrieg in Indien oft mit blutigem Ernst geführt - und manchmal mit Gewalt. Am 20. August begab sich Dr. Narendra Dabholkar um sieben Uhr morgens auf seinen Morgenspaziergang, wie er es immer tat, wenn er sich in Pune aufhielt. Diesmal kam er nicht weit. Beim Überqueren einer Brücke hefteten sich zwei junge Männer an seine Füsse, überholten ihn und erschossen ihn aus kurzer Distanz. Sie kehrten gemächlich zu ihrem Mottorrad zurück, das sie vor dem Polizeiposten am Brückenkopf parkiert hatten, sassen auf und brausten davon. Auf der Wache wollte Niemand die Schüsse gehört haben.
Es war ein seit langem angekündigter Mord. Die Drohungen kamen seit dreissig Jahren, als Dr.Dabholkar seinen Arztberuf aufgab und sich ganz dem Kampf gegen religiösen Aberglauben verschrieb. Die Warnbriefe lauteten etwa: ‚Remember Gandhi. Remember what we did to him‘.
Hindu-nationalistische Sprösslinge
Der Vergleich mit Gandhi zeigte, dass die Drohungen ernst genommen werden mussten, denn wer in Indien so offen zum Mord an Gandhi steht, muss als gemeingefährlich angesehen werden. Für Dabholkar war es eher eine Ehre, der gleichen gefährlichen Sorte Mensch wie der Mahatma zugerechnet zu werden. Er stammte aus einer prominenten Familie von Menschenrechtsanwälten, Agrarreformern und Akademikern, wie sie die Region um Pune im 19. Jahrhundert in grosser Zahl hervorgebracht hatte.
Aber Pune ist auch eine alte Brahmanenstadt, in welcher der Widerstand gegen die britischen Kolonialherren nicht nur Sozialreformer hervorbrachte, sondern auch hindu-nationalistische Sprösslinge trieb. Das Komplott gegen Mahatma Gandhi war in Pune geschmiedet worden. Mit seiner Ermordung wurden die religiösen Nationalisten zwar verfemt, doch mit dem Aufkommen der Rechtspartei BJP und der chauvinistischen Regionalpartei Shiv Sena in den letzten beiden Jahrzehnten erhielten diese Strömungen bald wieder Auftrieb und politische Protektion. Sie räumten mit der Ideologie der Gewaltlosigkeit als Leitgedanke politischer Auseinandersetzung auf. Allein in den letzten fünf Jahren wurden in der Region Pune acht Sozialaktivisten umgebracht – und keiner der Morde wurde bisher aufgeklärt.
Geschäftemacher in Mönchskutte
Bezeichnend für dieses Klima der Straflosigkeit ist, dass am Tag nach dem Dabholkar-Mord eine Hindu-Zeitung schreiben konnte: ‚Er bekam, was er verdiente‘. Dabholkar hatte es ihnen auch leichtgemacht. Die Polizei hatte ihm wiederholt Polizeischutz angeboten, doch er lehnte ab, mit dem rationalen Argument, dies würde nur bewirken, dass statt ihm seine weniger bekannten Mitstreiter zur Zielscheibe würden. Schutz vor seinen eigenen Landsleuten im eigenen Land könnte zudem den Eindruck erwecken, dass er etwas Falsches tat. Und dies wies er, mit dem Hinweis auf die von der Verfassung garantierte Meinungsfreiheit, emphatisch zurück.
Während vieler Jahre gab Dabholkar eine Wochenzeitschrift namens ‚Sadhana‘ heraus. Im Gegensatz zum ‚Indian Rationalist‘ aus Kerala richtete sich ‚Sadhana‘ weniger gegen den Volksglauben mit seinen magischen Sprüchen und Mantras, den Schutzpatronen und Gesundbetern. Jeder dürfe nach seinem Pläsier glauben. Aber er wehrte sich gegen die Ausbeutung dieses Glaubens durch skrupellose Geschäftemacher in Mönchskutte oder Brahmanen-Haarschnitt.
Kampf gegen Ausbeutung religiöser Gefühle
Statt nur dagegen zu wettern, versuchte Dabholkar, dieser Ausbeutung auch auf dem Gesetzesweg einen Riegel zu schieben, und es ist durchaus möglich, dass der Mord damit zusammenhängt. Denn nach vierzehn Jahren Lobbying liegt dem Regionalparlament von Maharashtra nun ein Gesetzesentwurf vor, die sogtenannte ‚Black Magic Bill‘. Sie soll Auswüchse und Ausbeutung magischen Denkens – Menschen- und Tieropfer, Hexenwahn, ritualisierte sexuelle Ausbeutung, Kindesraub, unbegründete Heilungsversprechen usw. - unter Strafe von bis zu sieben Jahren Haft stellen.
Um die Politiker so weit zu bringen, nahm Dabholkar auch in Kauf, dass die Gesetzesvorlage in den Augen der hartgesottenen Rationalisten viel zu stark verwässert wurde. Mitchell Weiss, ein Psychiater und Professor für Ethnomedizin am Basler Tropen-Institut, war ein Freund von Dabholkar. Er sagte mir, dass Dabholkar wusste, wie dünn gerade in Indien die Grenzlinie zwischen Glaube und Aberglaube ist, und wie leicht es demnach ist, den Kampf gegen Aberglauben als Angriff auf religiöse Überzeugungen umzudrehen. In seinen öffentlichen Auftritten habe er seinen Zuhörern immer wieder versichert, dass er ihren Gottesglauben respektiert; er kämpfe allein gegen die Ausbeutung religiöser Gefühle durch Geschäftemacher.
Im Tempel geheilt
Aber der Volksglaube, meint Professor Weiss, der auch in Indien forscht, ist dort so tief verwurzelt, und hat so vielerlei Formen angenommen, dass es schwer ist, Quacksalber und ihre leeren Versprechen von Überzeugungen zu trennen, die in einer kulturellen Praxis verankert sind und damit auch positive Wirkungen haben können. Er verwies mich auf eine Studie von 2002, in dem Forscher des ‚National Institute of Mental Health and Neurosciences‘ (NIMHANS) in Bangalore – alle Psychiater – einen Tempel in einem Dorf in Tamil Nadu studierten. Von ihm ging der Ruf aus, dass Menschen mit psychischen Störungen wie Schizophrenie, bipolare Störungen, Wahnvorstellungen dort geheilt werden. Ihre Beobachtung von 31 Besuchern bestätigte diesen Ruf: Mit Ausnahme von sechs Patienten zeigten alle nach durchschnittlich sechs Wochen eine signifikante Besserung ihres Zustands. Das Erstaunliche war, dass im Tempel keine Heiler tätig waren und das Tagesprogramm nur eine kurze religiöse Zeremonie aufwies; für den Rest des Tages erledigten die Bewohner nur Routinearbeiten, begleitet von Familienangehörigen, ohne Einmischung des Tempelpersonals.
Dr. Dabholkar starb für seinen Kampf gegen Aberglauben – aber den Volksglauben erschütterte er damit wohl kaum. Ein Zeitungsartikel berichtete von einem Handleser, der keine zwanzig Meter vom Tatort entfernt auf dem Pflaster sass und seine Dienste anbot. Auch er machte die Meinungsfreiheit geltend, die ihm die Verfassung garantierte. „Viele Leute glauben nicht an Geister. Und viele Leute glauben eben an Geister“. Einen kleinen Sieg konnte der Gute Doktor - aus dem Jenseits quasi – doch noch verbuchen: Vier Tage nach seinem Mord wurde das Gesetz gegen Schwarze Magie per Notrecht in Kraft gesetzt.