Der sprichwörtliche Volksmund kümmert sich darum einen Deut - um nicht zu sagen „einen Dreck“. Denn die Sprache blüht, verändert sich, macht Kapriolen. Doch nicht jede Mode ist nachzuäffen. Dafür sorgen offizielle und inoffizielle Kontrollorgane.
Am besten haben es wohl die Franzosen mit ihrer Académie française. Autoritativ wird da bestimmt, was gilt. Punkt. Weniger autoritativ - aber ebenso das Mass aller Dinge - ist im Deutschen der Duden. In China wiederum versucht die Propaganda-Abteilung der Partei – die neu seit einiger Zeit ganz im Sinne Orwells Informations-Abteilung heisst – die Sprache im Lot zu behalten. Doch für all jene des Schreibens kundigen Chinesinnen und Chinesen sind Wörterbücher der entscheidende Massstab. Zwar hat China nicht die Schrift erfunden, doch vor allen andern stellten die Chinesen vor 2'800 Jahren bereits das erste Wörterbuch zusammen.
Es gibt vielleicht drei wichtige Wörterbücher in China. Das entscheidende freilich ist wohl das „Xinhua Zidian“, das Wörterbuch Neues China. Eben ist nach acht Jahren die neueste, 11. Ausgabe des Dictionnaires veröffentlicht worden.
13'000 chinesische Schriftzeichen
Erstmals war das Wörterbuch 1953 zusammengestellt worden. Seither sind 400 Millionen Exemplare verkauft worden, vor allem an Schüler, Studenten, Beamte und natürlich auch Journalisten. Nachgedacht wird neu auch über eine elektronische Ausgabe. Schliesslich leben wir in Cyberspace. Allerdings ist der Preis der Paperback-Ausgabe mit 12 Yuan (nicht ganz zwei Franken) extrem billig. Wang Jing, Studentin an der renommierten Pekinger Uni Beida kauft, obwohl sie ansonsten meist Online ist, das Buch. „Es ist beim Arbeiten einfach praktischer“, sagt sie.
Nach Angaben von Sprachwissenschaftler Zhou Hongbo sind in der jetzigen Ausgabe des Xinhua Wörterbuches sehr viele neue Ausdrücke. Insgesamt werden 13'000 chinesische Schriftzeichen verwendet, darunter auch neu 1'500 traditionelle Zeichen, wie sie in Hong Kong, Taiwan und Singapur üblich sind. Dass es so viel Neues gibt, überrascht Zhou Hongbo nicht. „Kein Wunder“, sagt er. „Wir leben im Internet- und Twitter-Zeitalter“. Vieles verändere sich rasend schnell, doch jede Mode müsse man als Hüter der Sprache auch nicht mitmachen, meint Zhou. „Men“ (Tor) zum Beispiel wurde aufgenommen, um einen Skandal auszudrücken. Dies in Anlehnung an den amerikanischen Watergate-Skandal, Gate also Tor, also Men.
Unschickliche Inhalte entfernt
Ausgewählt wird von den Dictionannaire-Redaktoren, Sprachwissenschaftlern und Lexikographen zusammen mit dem Erziehungsministerium nach ausgiebigen Diskussionen. Dass auch politische und soziale Gesichtspunkte mitspielen, versteht sich in einem Staat von selbst, in dem die allmächtige Kommunistische Partei das Informationsmonopol besitzt. „In dieser Ausgabe“, erklärt Zhou, „haben wir alle unschicklichen und unzulässigen Inhalte entfernt“. Dafür wurde beispielshalber der politisch korrekte Ausdruck „soziale Harmonie“ neu aufgenommen.
Fast ebenso renommiert wie das „Xinhua Zidian“ ist das „Zeitgenössische Chinesische Wörterbuch“ der Lexikographischen Gesellschaft von China. Stolz erklärt der Direktor, Linguist Jiang Lansheng, dass in der eben herausgegebenen neusten sechsten Auflage 13'000 Zeichen, 3'000 neue Ausdrücke, 400 neue Erklärungen und insgesamt 69'000 Einträge enthalten seien. „Shengen-Abkommen“, „Valetine’s Tag“, „Thanksgiving“, „Bestechung und Korruption“, „Reduktion von Kohlendioxyd“, „Weisswaschen“ (für illegales zu legalem Geld) und viele weitere Wort-Kombinationen werden erklärt. „Ausdruck“, so Jiang Lansheng, „einer sich schnell wandelnden Wirtschaft und Gesellschaft“. Englische Kürzel, die in den staatlich und parteilich gelenkten Medien noch bis vor kurzem offiziell tabu waren, sind jetzt im „Zeitgenössischen Chinesischen Wörterbuch“ verzeichnet, etwa CPI (Consumer Price Index), ETC (Electronic Toll Collection also Maut-Zahlstelle), FTA (Free Trade Agreement) oder PM2,5 (Masseinheit für Luftverschmutzung). Auch mannigfaltige Internet-Ausdrücke sind minutiös aufgelistet. „Geili“ (fantastisch, gewaltig) beispielshalber oder auf gut Deutsch übersetzt (krass) geil.
„Tongzhi“ = schwul
Ein in der Umgangssprache populäres Wort freilich hat in keinem der Lexika Eingang gefunden. Nicht verwunderlich, denn der Ausdruck ist heikel. Mit „Tongzhi“ sprachen sich einst und begrüssen sich wohl noch heute die Genossen der Partei an. Also beispielsweise Genosse Hu, Hu Jintao Tongzhi (Staats- und Parteichef Chinas).
Nur eben, in der Umgangssprache bezeichnet „Tongzhi“ schlicht einen Schwulen. Igitt!! Linguist Jiang Lansheng sagt, natürlich kenne man den Gebrauch des Wortes. „In der Umgangssprache kann man ein solches Wort gebrauchen“, sagt Jiang, „aber in einen Standard-Dictionnaire gehört das Wort sicher nicht, weil wir diese Dinge nicht fördern wollen, kurz, wir wollen die Aufmerksamkeit nicht auf solche Dinge lenken“.
Ironie der Geschichte: das Wort „Tongzhi“ (Genosse) in der Bedeutung von Schwuler wurde einst in Hong Kong und Taiwan gebraucht, um sich über die Genossen auf dem Festland lustig zu machen. Weniger lustig hatten es die Homosexuellen auf dem Festland. Bis 1997 war Homosexualität in China gesetzlich verboten und Jahre danach wurde Homosexualität noch als „psychische Störung“ diagnostiziert. Heute hat sich vieles zum Besseren gewendet. In den Grossstädten gibt es eine lebendige Schwulen- und Lesben-Szene, vergleichbar etwa mit Europa und der Schweiz in den 1970er-Jahren. Immerhin, „Toleranz“ schafft es als Eintrag in beide besprochenen Lexika.