Indien hat noch nie an einer Fussball-Weltmeisterschaft teilgenommen. In der Fifa-Bestenliste rangiert es auf Platz 154. Doch ein junges, aggressives Indien bringt Unruhe in das Cricket-Paradies, und das Kapital hilft mit einer ‚Football Super League‘ nach.
Es war heiss, und unter dem einzigen schattenspendenden Baum am Rand des staubigen Quartierparks standen einige Strassenjungen. Sie hatten miteinander Fussball gespielt, doch dann hatte im nahen Schulgebäude die Glocke geläutet, die Schule war aus und einige Jungen waren auf den Platz gekommen, stellten sich auf, und begannen Cricket zu spielen. Die Strassenjungen zogen sich an den Rand des Platzes zurück, schauten den Cricketspielern zu und machten Kommentare. Es war das alte Lied – gegen Cricket ist Fussball immer Zweiter.
Der staubige Platz mitten im alten Industriearbeiter-Quartier von Bombay erinnerte mich an den Titel des Cricket-Buchs des Historikers Ram Guha, ‚A Corner in a Foreign Field‘. Es war eine Anspielung auf das Paradox, dass ein so englisches (und aristokratisches) Spiel in dieser Ecke des Britischen Weltreichs Fuss fassen konnte. Inzwischen ist Indien längst ins Zentrum des Cricket-Felds vorgerückt. Der indische Cricketverband BCCI ist der weitaus reichste Cricketverein der Welt, mit Einnahmen in der Grössenordnung der englischen Fussball-Liga und der amerikanischen Baseball-Federation. Inder besetzen die Schlüsselpositionen im Cricket-Weltverband in London. Mit der ‚Indian Premier League‘(IPL) hat der BCCI einen weiteren Goldesel im Stall, von dem sogar die Verbände in Zimbabwe und Surinam und Afghanistan profitieren.
„Man steht beim Cricket nur herum“
Das grosse Geld aus Werbung und Fernsehrechten fliesst aber grossenteils ins eigene Land – in neue Stadien (Bombay allein hat deren drei), in die besten Spieler der Welt, in Ausbildungsprogramme, Nachwuchsförderung – und in die Taschen von Politikern, Funktionären, illegalen Wettkonsortien. Seit dem Start der IPL jagt ein Skandal den anderen – Spielabsprachen, ‚Sweetheart Deals‘, Interessenkonflikte. In diesem Frühjahr schritt der Oberste Gerichtshof in Delhi ein, enthob den BCCI-Präsidenten seines Amtes und gab dem Verband eine letzte Gelegenheit, den Stall auszumisten.
Macht sich mit dem Geld-Überfluss auch ein wachsender Cricket-Überdruss bemerkbar? Und ist dies die Chance für den Fussball? Wenn ich meinen 16-jährigen Neffen Arish frage, erzählt er mir, seine Schulkameraden spielten nur noch Fussball. ‚Cricket ist lustig am Fernsehen, aber langweilig zum Spielen. Man steht herum und alle zehn Minuten kann man einen Ball fangen“. Mehrere seiner Freunde haben in ihren Sommerferien in England einen Fusballerkurs besucht, den Klubmannschaften wie Manchester United oder Liverpool FC gegen teures Geld anbieten.
„Churchill Brothers“
Indiens Fussball sei ein ‚schlafender Riese‘, hat Sepp Blatter laut ‚Financial Times‘ gesagt. Und tatsächlich, das zweitgrösste Land der Welt rangiert auf Platz 154 der Fifa-Weltrangliste, und nahm noch nie an einer WM teil. Es gibt zwar eine nationale Meisterschaft, doch professioneller Fussball wurde bisher nur in Goa, Kerala und in Bengalen gespielt. Die Namen vieler Vereine – ‚Churchill Brothers‘ etwa, der letztjährige Südindien-Meister – zeigen aber, dass auch ihnen professionelles Management fehlt. Sie werden von Politikern und Unternehmern kontrolliert (Churchill Alemao ist ein abgebrühter Kongresspolitiker in Goa), Trainer wechseln häufiger als beim FC Sion, Spieler warten manchmal monatelang auf ihre Saläre.
Nun hat sich aber plötzlich etwas geändert. In Südindien etwa machte in dieser Saison der FC Bangalore von sich reden. Software-Unternehmer investierten in den Verein, der letztes Jahr auf dem letzten Rang gelandet war. Ein kleines Stadion wurde gemietet, der von ‚Blackburn Rovers‘ entlassene Trainer wurde angeheuert, ein indischer Berufsspieler mit Erfahrung im englischen Profi-Fussball kam unter Vertrag. Und siehe da – der FC Bangalore wurde auf Anhieb neuer Meister, während Churchill Brothers von Bangalore die rote Lanterne übernahm.
‚Indian Super League‘
Der Amateurverein FC Pune schlug in der asiatischen Meisterschaft gleich zweimal den Champion aus Hongkong, Kichlee Sports Club. Das hob die Poonawallahs zwar nicht aus dem letzten Rang, und es verdrängte den FC Kichlee nicht vom ersten, aber es war eine kleine Sensation. Sie wurde in den Zeitungen gebührend gefeiert. Aber dies geschah in den Lokalspalten, wo auch über Firmenspiele zwischen dem ‚Air India FC‘ und dem ‚State Bank FC‘ berichtet wird, oder über die Lokal-Liga von Bombay, in der gegenwärtig ein Verein namens ‚Young Boys FC‘ gut im Rennen liegt. Auf den Sportseiten liest man vom Fussball nur, wenn Real Madrid oder die Bayern spielen, versteckt zwischen sieben Cricket-Artikeln.
Zum ersten Mal erhielt vor einigen Wochen auch der indische Fussball die Ehre, von den Sportredaktionen wahrgenommen zu werden. In Bombay, dem Mekka des Cricketspiels, wurde eine ‚Indian Super League‘ aus der Taufe gehoben. Für mindestens zwanzig Millionen Dollars konnte man für eines von acht Teams eine zehnjährige Lizenz erwerben. Die Auktion wurde ein voller Erfolg. Und wer gehörte zu den Investoren? Bollywood-Stars, Firmen – und ehemalige Cricket-Könige wie Sachin Tendulkar und Saurabh Ganguly. Europäische Altstars wie Roberto Pires und Freddy Ljungberg seien bereits verpflichtet worden, hiess es, ebenso Trainer mit wohlklingenden Namen – Dalglish, Desailly, Schmeichel. Im September soll die Super-Liga in die ersten Runden gehen.
Kulturelle Umschichtung?
Die Promotoren der ISL sind neben der indischen Reliance-Gruppe von Mukesh Ambani die amerikanische Sportagentur IMG und Rupert Murdoch. Dessen StarTV hat sich die Rechte für die Übertragungen der Spiele gesichert. Alle sind optimistisch. Die hausinterne Fernsehforschung fand heraus, dass 131 Millionen Inder regelmässig die Spiele der europäischen ‚Champions League‘ und der englischen ‚First Division‘ anschauen. Natürlich hoffen die Promotoren auf einen Anstoss-Effekt durch die WM in Brasilien. Und um den ‚schlafenden Giganten‘ endlich wachzurütteln hat die Fifa für 2017 die Weltmeisterschaft der Unter-Siebzehnjährigen (‚U-17‘) nach Indien vergeben.
Wer weiss, vielleicht sind sowohl die Strassenjungen in Matunga wie Mukesh Ambani in seinerm 27-stöckigen Familienbungalow derselben tiefergreifenden kulturellen Umschichtung auf der Spur. Für die junge Generation von Indern mit ihren aggressiven Aspirationen und Ambitionen – unübersehbar im politischen Avatar des muskulösen Narendra Modi – ist Cricket ein ‚Herumstehen‘, fehlender Körperkontakt, viel zu abgehoben und subtil. Es bietet etwa soviel Identifikationsfläche wie der ewig-korrekte Grossvater Manmohan Singh.
Göttliche Tätigkeit
Die jungen männlichen Inder wollen sich ins Gewühl werfen, sie wollen gefordert werden, sie wollen kämpfen, nicht (nur) mit dem Kopf, sondern dem ganzen Körper. So jedenfalls orakeln die Fernsehphilosophen, die in dieser Zeit der Wahlen Hochkonjunktur haben. Vielleicht kündigt sich hier tatsächlich ein tiefgreifender Wandel an. Dann wird er sich nicht auf den Fussball beschränken, sondern auf alle athletischen Sportarten, in denen Indien bisher so schwindsüchtig daherkam. Doch Fussball bietet die besten Chancen, um erste Breschen zu schlagen. Hat doch schon der grosse Vivekananda gesagt, Fussballspielen sei eine göttlichere Tätigkeit als fromme Bücher zu lesen.