„Ohne meine Leute könnte das OK zusammenpacken“, sagte mir Heimleiter Erwin Heinzmann. Aber als ich das Haus finden wollte, konnte mir kein Bewohner Auskunft geben. Der Hauswart des Heims für Schwerstbehinderte – ich hatte es mit der Asylanten-Unterkunft verwechselt – wies mich auf den Bauhof der Firma Gétaz Romang beim Kreisel. Doch dort wusste der Fahrer eines Gabelstaplers nichts von einem Asylzentrum und verwies mich zum Nachbarn, der sinnigerweise „Domig Internationale Transporte“ hiess.
Auch da machten sie ein blankes Gesicht. Erst beim dritten Anlauf fand ich die Schotterstrasse auf dem Rhone-Damm, und darunter den modulförmigen Zweckbau des Zentrums. „Es ist schon ein bisschen ironisch“, sagte mir Heimleiter Heinzmann in seiner winzigen Bürokabine. „Wir betreuen im Oberwallis, neben den siebzig Neu-Ankömmlingen hier im Zentrum, weitere 356 Asylbewerber in verschiedenen Unterkünften in der Region.“
Versprechungen von Reichtum und Arbeit
„Die meisten erhalten, sobald wir für sie ein Zimmer oder eine Wohnung gefunden haben, einen Job – als Waldarbeiter, Kehrichtentsorger, Tellerwäscher, Bauarbeiter.“ Aber kaum ein Mensch in Visp weiss oder will wissen, wo das Asylzentrum liegt. Sie nehmen es gar nicht wahr oder sehen es schemenhaft – „etwas Schwarzes beim Rotten draussen“. Es ist ein Paradox: Man will sie nicht, aber man braucht sie doch.
Die allermeisten Asylbewerber, das sagen auch die Betreuer in Visp, sind wegen ihres Glaubens, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer politischen Ansichten nicht an "Leib und Leben" gefährdet, wie es das Flüchtlingsgesetz verlangt. Schliesslich kamen die meisten Flüchtlinge aus dem arabischen Raum nicht dann, als sie von Despoten geknechtet wurden, sondern nachdem sie diese verjagt hatten. Aber sie sind arm, mit ein bisschen Schulbildung, und leben in chaotischen politischen Verhältnissen – Anreize genug, um den Versprechungen von Reichtum und Arbeit jenseits ihrer Grenzen zu folgen.
Welcome to the Flüchtlingsheim
Das Flüchtlingsgesetz bietet das willkommene Schlupfloch. Es ermöglicht die schmale Arbitrage zwischen "unwillkommen" und "nötig", und die meist unvermeidliche Deportation hält mit dem Kreislauf von Information auch jenen immer neuer Asylbewerber intakt.
Auch für die Asylanten-Betreuer ist die tägliche Arbeit ein Hochseilakt von ständigen Arbitrage-Entscheiden, ein Spagat, den das Oxymoron "temporäre Integration" prägnant beschreibt. Sie sind verpflichtet, gemäss den humanitären Vorgaben des Gesetzes die Asylbewerber willkommen zu heissen und ihnen Schutz und Betreuung zukommen zu lassen. Aber sie dürfen ja keine Hoffnungen wecken, die den wahrscheinlichen Negativ-Befund dann noch harscher machen würden.
Ich war erstaunt, als ich dem "Aufnahmegespräch" zuhörte, das ein Mitarbeiter in Visp mit drei Asylbewerbern führte, die soeben aus dem Auffangzentrum Vallorbe angereist waren. Er verlas die Hausordnung, die streng war, aber durchaus Freiräume offenliess. Und er tat es mit Anteilnahme und Wärme, die mich an eine Jugendherberge erinnert hätte, wären da nicht drei Somalier gesessen, stumm und mit gesenkten Köpfen. „The team of the Foyer Visp warmly welcomes you to the Canton of Valais, to the city of Visp, and most of all to the Flüchtlingsheim“.
Den Sog mindern
Solche Worte könnten ja auch im Wörterbuch des Unmenschen stehen ("Arbeit macht frei"). Das Angebot an häuslicher Infrastruktur, Sprachkursen, ärztlicher Betreuung wechselt denn auch abrupt zum mageren Taggeld, das durch verschiedene Abzüge noch gemindert wird, zur wöchentlichen Meldepflicht, zur Warnung vor Polizei-Razzien, falls Drogen oder Diebesgut im Spiel sind. Und es schliesst ominös mit dem Satz, dass das Heim mit dem endgültigen Entscheid über den Verbleib in der Schweiz nichts zu tun habe.
Seine einzige Pflicht: „To make your stay as smooth as possible.“ Der Informationsschalter sagt es, brutal und deutlich: Statt aus Glas besteht er aus Holzbalken. „Wir mussten es tun“, sagt Heinzmann. „Ein Asylant, der deportiert werden sollte, zerbrach die Scheibe und stiess dann seine Handgelenke in die Splitter.“
Nirgends wird einem so klar, wie inszeniert soziale Realität sein kann, eine Reality Show im buchstäblichen Sinn. Dahinter verbirgt sich im Grunde der paradoxale Anspruch der Globalisierung: Sie will die nationalen Grenzen öffnen, damit sie nicht überschritten werden. Dank der Integration wirtschaftlicher Kreisläufe will sie globalen Wohlstand schaffen, und dies soll auch in den armen Ländern Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen – und den Sog wegnehmen, der arme Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben zu Migranten macht.
Verlierer sind die echten Flüchtlinge
Das Problem dabei: Die Erfinder der Globalisierung können deren Früchte sofort ernten, während sie für die Armen der Welt bestenfalls ein Versprechen sind. Und in diesen Riss des vermeintlich gemeinsamen Zeithorizonts schiebt sich der alte Graben von Reich und Arm, von erfülltem Wohlstand und unerfülltem Anspruch. Doch die Brückenbögen der Globalisierung – Transportwege und Datenströme – existieren, und sie dienen den Armen für den Transport des einzigen Guts, das sie im Überfluss haben und für das bei uns ein Bedarf besteht: ihre Arbeitskraft.
Die eigentlichen Verlierer in diesem Spiel ohne Grenzen sind die echten Flüchtlinge. Das Flüchtlingsgesetz ist für sie gedacht, aber es wird im gleichen Masse von den "Wirtschaftsflüchtlingen" durchlöchert, wie es von den heimischen Verwaltern des "Abwehrdispositivs" verwässert wird. Insofern kann ich die harsche Polemik des Schriftstellers Lukas Bärfuss verstehen, der im Tages-Anzeiger dem Parlament vorwarf, mit neuen Beschleunigungsverfahren das Asylrecht abzuschaffen.
Welcher Fluchtgrund zählt wirklich?
Dennoch ist sein Rundumschlag unfair. Noch immer wird in den Berner Amtsstuben ernsthaft geprüft, welcher Asylanwärter nun in welches Töpfchen kommt; darum dauert es im Schnitt achtzehn Monate bis zu einem Entscheid. Und auch in Visp, dort, wo bei der Rhone das „Schwarze“ wabert, gibt es Lichtpunkte, gesetzt von engagierten Einwohnern, die die Beamten auf den humanitären Grundrechten behaften, die auch für Asylbewerber gelten.
Die Beamten um Erwin Heinzmann sind weit entfernt vom böswilligen Rassismus eines Ulrich Schlüer und dessen "Abschaum"-Unwort. Dennoch: Gerade die politischen Flüchtlinge drohen mit dem Pauschalverdacht der Wirtschaftsflucht und den abgekürzten Verfahren unter die Räder zu kommen. Natürlich gilt dies nicht für Tibeter („denen würde ich sofort einen Extra-Stockwerk bereitstellen“, meinte ein Betreuer in Visp), und auch nicht für iranische oder syrische Asylbewerber.
Aber welche Chancen haben die drei Somalier im Empfangsraum von Visp? Sie sind wohl kaum direkte Ziele eines despotischen Regimes. Aber mit 90 Prozent ihrer Landsleute sind sie "an Leib und Leben" gefährdet. Ist es am Ende nicht einerlei, welcher Art diese Gefährdung ist, sei es der Glaube, die politische Überzeugung, oder – der Hunger?