Die Bevölkerung des Fischerortes Rabo de Peixe, auf den Azoren, hat an einem hartnäckigen sozialen Stigma zu knacken. Eine Serie der Streaming-Plattform Netflix hat diesen Ort jetzt ins Blickfeld gerückt und stösst nicht nur in Portugal auf enormes Interesse. Auf den Inseln im Atlantik sind die Meinungen und Gefühle geteilt.
Eine Yacht mit mehr als einer halben Tonne Kokain an Bord gerät im Meer der Azoren in Seenot. Ein Mast ist gebrochen, also nimmt sie Kurs auf die Insel São Miguel, um die Reparatur vornehmen zu lassen. Was aber tun mit der «heissen Fracht» aus Südamerika, die für die Drogenmafia in Spanien bestimmt ist? Es gelingt dem italienischen Bootsführer, sie in einer Grotte abzuladen, mit der Absicht, sie später wieder aufladen zu können. Aber die Wucht des Atlantiks ist stärker als der Anker und Ketten, mit denen der Bootsführer die Fracht hat sichern wollen. Sie spült die Pakete mit weissem Pulver an die Nordküste der grünen Insel, wo das Unglück seinen Lauf nimmt.
Zwischen Fakten und Fiktion
So begann – wenigstens ursprünglich – keine Streaming-Serie, sondern eine wahre Geschichte, die sich im Juni 2001 auf São Miguel ereignete, grösste der neun Inseln dieses portugiesischen Archipels mit insgesamt knapp einer Viertelmillion Einwohnern (von denen mehr als die Hälfte auf dieser Insel lebt). Zwar konnte die Polizei den grössten Teil der Fracht sicherstellen, einen nicht unwesentlichen Teil des Kokains mit einem sehr hohen Reinheitsgrad von rund 80 Prozent aber eben nicht. Insbesondere der Fischerort Rabo de Peixe, der als sozialer Brennpunkt gilt, rückte deshalb zweimal ins Blickfeld – das erste Mal vor 22 Jahren, als manche Leute das Geschäft ihres Lebens machten, und das zweite Mal jetzt. «Rabo de Peixe» heisst nämlich eine auf São Miguel gedrehte Serie, die am 26. Mai auf der Streaming-Plattform Netflix anlief.
Ein Link zum Trailer: Auf Englisch heisst die Serie «Turn on the Tide»
https://www.netflix.com/pt/title/81410976
Die Regie führten Patrícia Sequeira und der von den Azoren stammende Augusto Fraga, die teils Leute von der Insel als Darsteller oder Statisten anheuerten. Manche Mitwirkenden sollen darüber geklagt haben, dass sie nicht von Anfang an über das Thema dieser Serie informiert worden seien. Am Endprodukt – es ist erst die zweite ganz in Portugal gedrehte Serie von Netflix – scheiden sich auf der Insel die Geister.
Nicht erst auf dem Bildschirm vermischen sich Fakten und Fiktion. Zu den Fakten gehörte 2001 eine ungewöhnlich hohe Zahl von Einlieferungen in den Notaufnahmen der Spitäler wegen Überdosis und, allein in den ersten Tagen nach dem Vorfall, annähernd 20 Toten. Laut Medienberichten waren Gläser mit Kokain damals, bis sich Leute des Wertes dieser Ware bewusst wurden, ab 500 Escudos zu haben, in heutiger Währung 2.50 Euro. Kinder sollen die Linien improvisierter Fussballfelder mit diesem Pulver erneuert haben. Und es heisst, Hausfrauen hätten dieses für Mehl gehalten und Fisch vor dem Braten damit paniert – was manche Leute als Erfindung abtun.
Angst vor der Ausschlachtung
Das mit dem gebratenen Fisch stimme, versichert der 62-jährige Senhor José, ein pensionierter Fischer, gegenüber dem Autor dieses Artikels, der sich, als die Serie anlief, gerade auf der Insel befand und den Schauplatz von einst besuchte. Er habe sich die erste Folge bei seiner Enkelin ansehen wollen, das Haus aber bald verlassen. Es sei ja nur um «Droge, Droge, Droge» gegangen.
«Eu gostei» – mir hat’s gefallen – antwortet dagegen eine junge Frau. Nach ihren Eindrücken gefragt, antworten manche Leute mit Schulterzucken, andere wollen diese 22 Jahre alte Geschichte vergessen und befürchten, dass sie jetzt ausgeschlachtet werden könnte – zu Lasten des Ortes und seines Rufes. Wieder andere hoffen just auf den gegenteiligen Effekt, nämlich dass Leute aus Neugier in diesen schon vor dem Drogen-Tsunami stark stigmatisierten Fischerort kommen und sehen, dass vieles dort nicht mehr so sei wie früher. «Grosse Sch…», urteilt dagegen eine junge Frau an der Kasse eines Supermarktes. Sie kritisiert unter anderem, dass die Serie nach amerikanischem Vorbild gedreht worden sei und dass sanfte Musik von den Inseln zu brutalen Szenen erklinge.
Hartnäckige Klischees
Zum touristischen Pflichtprogramm auf São Miguel gehören der riesige Krater Sete Cidades mit einem blauen und einem grünen See, der oft in Nebel gehüllte «Feuersee» Lagoa do Fogo und der Ort Furnas, wo sich Bäder in heissem vulkanischen Wasser empfehlen. Um Rabo de Peixe mit seinen rund 9’000 Einwohnern machen viele Leute indes einen Bogen.
Bei Rabo de Peixe denken viele Leute zunächst an Klischees. Früher sagte man, das Jahr bestehe für die Fischer aus drei fetten Monaten auf dem Meer und neun mageren Monaten in den Kneipen, mit entsprechendem Alkoholkonsum. Mit dem Ort assoziiert man aber auch kinderreiche Familien. Nirgendwo sonst in Portugal sind so viele Familien von der Sozialhilfe abhängig – für die rechtsextreme Partei Chega ein Anlass, gegen eine Abhängigkeit von Subventionen zu wettern. Und der Ort hat sogar sprachliche Eigenheiten. Wer vom Festland kommt, muss sich auf São Miguel schon an eine spezielle Aussprache mit besonders dunklen Nasalen und französisch anmutenden langen ü-Lauten gewöhnen. Eine spezielle Variante von Rabo de Peixe wirft selbst unter portugiesischen Landsleuten einige Verständigungsprobleme auf.
Neue Winde
Aber Rabo de Peixe verändert sich. Im oberen Teil des Ortes verraten gepflegte Einfamilienhäuser an der «Rua dos Emigrantes» oder an der «Rua de Toronto», wie viele Leute dem Milieu am Ort entkommen sind. Auf den schmalen Strassen, die zum Meer führen, fallen vor allem Hausfrauen und spielende Kinder auf. Aber die Zeiten, da Familien mit zehn und mehr Sprossen keine Seltenheit waren, scheinen vorbei. Zwei Fischer erzählen im Gespräch, dass sie je drei Kinder haben. Einer von ihnen hatte selbst fünf, der andere dreizehn Geschwister.
Rabo de Peixe bekam schon vor einigen Jahren einen grossen neuen Fischereihafen, sogar mit einem Kran, der Boote aus dem Wasser heben kann. Über einem Strand vor dem Ort wurde vor einigen Jahren derweil ein mit vier Sternen klassifiziertes Eco Beach Resort eröffnet. Wer sich von dort in den Ort verirrt, stösst vielleicht auch auf das Restaurant für Spezialitäten von den Azoren, das ein junger Mann von der Insel eröffnete.
In Lissabon warben Plakate in Schaukästen für Werbung für diese Serie, die aber auch im Ausland auf ein unerwartet grosses Interesse stösst – nicht zuletzt in Ländern wie Griechenland, Malta, Polen, Italien und Rumänien. Weniger überraschend ist das Interesse in Ländern mit grossen portugiesischen Gemeinden wie in Luxembourg und in der Schweiz.