Dieter Imboden und seine Frau sind wieder mit ihrem Boot „Solveig VII“ auf Europas Flüssen unterwegs und führen für uns Tagebuch. Hier der letzte Bericht vor der Sommerpause.
„Geht ihr diesen Sommer wieder ‚böötle’ auf eurem Hausboot?“ – Wenn man mir früher solche Fragen gestellt hat, meinte ich jeweils noch, ich müsste etwas erklären und richtig stellen, aber heute zähle ich innerlich auf zehn, nicke mit dem Kopf und lache dabei. Lassen wir also unsere stolze Solveig VII Hausboot heissen, sie hört es ja zum Glück nicht, lassen wir sie eines jener schwimmenden Flosse sein, auf denen man Onkel Toms Hütte aufgebaut hat, die an schönen Sonntagen mittels eines kleinen Aussenbordmotors auf den Berliner Seen mühsam gegen Wind und Wellen ankämpfen, einen der mobilen Stereoanlage entweichenden gewaltigen Klangteppich hinter sich herziehend. Und beim „Böötle“ kommen mir die Ruderboote und Pedalos in den Sinn, die sich im unteren Seebecken des Zürichsees tummeln, bestückt mit sich der Sonne zuwendenden, rötlich angebratenen, aber fröhlichen, halbnackten Menschen.
Auch wenn ich dazu schweige, diese Bilder gehen mir jeweils trotzdem durch den Kopf. Und weil dieser Beitrag bereits der letzte der Frühlingsserie ist (wir haben unterdessen Holland über den Haren-Rütenbrock Kanal wieder Richtung Deutschland verlassen, sind die Ems hochgefahren und schwimmen auf dem Mittellandkanal Richtung Hannover, wo die Solveig Sommerpause machen wird), versuche ich für einmal, quasi als Gegenzauber zu den Hausboot-Bildern, einen ganz normalen Tag auf der Solveig zu schildern.
Meine Frau Sibyl, die erste Matrosin
Wir erwachen also irgendwann zwischen 6 und 7 Uhr – ohne Wecker, die Vögel und das anbrechende Tageslicht tun das Ihre – im Hafen der kleinen holländischen Stadt Venlo an der Maas. Zuerst gibt es ein ausgiebiges Frühstück, dann werden Deck, Reling und Aussensteuerstand vom Morgentau getrocknet und das Schiff für die Abfahrt vorbereitet. Dazu gehört, fast wie bei einem startenden Flugzeug, eine Art Checkliste: Motor kontrollieren, Kühlwasserfilter reinigen, manchmal muss die Welle, dort wo sie im Heck durch den Schiffsrumpf zur Schraube läuft, gefettet werden, damit kein Wasser eindringt, dann den Mast legen – er ist immerhin über 7 Meter hoch und passt, ausser auf dem Rhein und auf gewissen Strecken in Holland, wo die Brücken ohnehin bei der Durchfahrt hochgeklappt werden, nicht unter den Brücken durch. Wehe, wenn man es vergisst – wir mussten ihn nur einmal notfallmässig absenken, seither sind wir klüger.
Der Steuerstand wird mit den wichtigen Utensilien vorbereitet: Funkgerät, Feldstecher, Kartenmaterial. Ich ziehe es der Übersicht wegen vor, die Solveig vom Deck aus zu steuern, daher liebe ich als altmodischer Mensch gedrucktes Kartenmaterial, denn Bildschirme sind an der Sonne manchmal schwierig zu lesen. Nur bei allzu grosser Kälte und Regen (wie in diesem Frühling) wechsle ich ans Innensteuer, was meine Frau Sibyl (erste Matrosin) und ich auch „fliegend“, d. h. während der Fahrt praktizieren.
Geschwindigkeit: 12–15 km/h
Ungefähr um 9 Uhr legen wir ab, „machen die Leinen los“, wie die gebildeten Schiffer zu sagen pflegen. Für heute haben wir ein komplexes und ziemlich langes Stück Wasserweg geplant. Die ersten 50 Kilometer führen uns auf der Limburger Maas stromabwärts durch eine wunderbare Landschaft. Die Strömung ist moderat; sie gibt uns auch bei kleiner Motorenleistung eine angenehme Geschwindigkeit zwischen 12 und 15 km/h. Dennoch ist ständige Aufmerksamkeit nötig, nicht nur, weil Strömungswirbel das Schiff innert Sekunden aus seiner Fahrtrichtung drehen können, sondern auch weil man sich auf natürlichen Gewässern anhand der Karte oder der stellenweise gesetzten roten und grünen Bojen strikte an die Fahrrinne halten muss. In Ufernähe lauern die berüchtigten Buhnen, d. h. die in den Fluss hinausgebauten steinigen Querdämme, welche bei Niedrigwasser die minimale Wassertiefe in der Fahrrinne garantieren sollen. Über unsere diesbezüglichen Erfahrungen habe ich an anderer Stelle berichtet (siehe: „Die Buhne" vom Mai 2016).
Um 10 Uhr gibt es, während der Fahrt, für die Mannschaft Kaffee. Etwas später passieren wir eine Schleuse, bei der wir uns rechtzeitig via Funk angemeldet haben. Wir sind positiv überrascht, wie zuvorkommend die Holländer nicht nur die Frachtschiffe, sondern auch die privaten Yachten an den Schleusen behandeln. Von Deutschland und Frankreich sind wir anderes gewohnt; dort wartet man manchmal, auch wenn kein Frachtverkehr herrscht, sehr lange auf die Gnade des kleinen Gottes im Schleusenhaus.
Das 17-Tonnen-Schiff
Während des Schleusenvorgangs wechseln unsere Rollen: Die Matrosin übernimmt die Kontrolle über das Schiff, was in den grossen und oft unruhigen Schleusenkammern höchste Aufmerksamkeit erfordert, um das Schiff nicht an einem verklemmten Tau buchstäblich aufzuhängen oder beim Wechseln der Seile von einem Poller zum nächst höheren bzw. tieferen das Schiff nicht von der Schleusenwand wegdriften zu lassen. Unsere Solveig ist mit ihren 17 Tonnen auch für Bärenstarke zu schwer, um durch reine Muskelkraft gehalten zu werden. Die wirkliche Arbeit leisten Kopf und Erfahrung der „Seilmeisterin“, indem sie die Bewegung des Schiffes genau beobachtet und den Seilwechsel nicht gegen, sondern mit der Bewegung des Schiffes vornimmt. Der Kapitän seinerseits kann unterdessen, bei abgestelltem Motor, einen Moment entspannen, die Karte studieren oder ganz einfach auf die Toilette gehen.
Bei Flusskilometer 166 verlassen wir die Maas (sie hat uns während mehr als zwei Wochen begleitet) und zweigen rechts in den Maas-Waal-Kanal ab. Man muss solche Abzweigungen rechtzeitig voraussehen, denn in der Strömung kann man nicht in letzter Minute reagieren wie ein Autofahrer auf der Autobahn, der gerade noch die richtige Ausfahrt erwischt. Zudem sind Richtungsschilder – falls es überhaupt solche hat – oft erst auf kurze Distanz lesbar, daher der Feldstecher.
Das obligate Glas Rotwein
Der Verbindungskanal ist durch eine Schutzschleuse gesichert, die aber nur bei Hochwasser bedient wird. Wir fahren langsam unter dem geöffneten Sicherheitstor durch (ich denke dabei immer an eine Guillotine), vorbei an der Stadt Nijmegen bis zur zweiten Schutzschleuse, welche uns zum Waal bringt. Je nach Wasserstand in den beiden Flüssen, Maas und Waal, ist der Niveauunterschied in dieser Schleuse positiv oder negativ. In unserem Fall ging es minim aufwärts vom Niveau der Maas in dasjenige des Waal.
Vorher noch hat die Matrosin, welche zugleich „cheffe de cuisine“ ist, eine fliegende Mittagsverpflegung serviert: Heisse Suppe, belegte Brötchen und das obligate Glas Rotwein. Denn jetzt sind wir an jener Stelle angelangt, an welche wir schon seit Wochen mit etwaigem Bangen denken, an der Einmündung in den Waal. Über einen speziellen Funkkanal, den man – wie auch die Schleusenfunkkanäle – der Karte entnimmt, melden wir uns bei der Leitstelle Nijmegen: „Motoryacht aus dem Maas-Waal-Kanal in den Waal zu Berg.“ (Da wir nicht holländisch können, versuchen wir es jeweils mit Deutsch oder Englisch; die holländischen Beamten der Wasserbehörden sind zum Glück sehr flexibel.) Freundlich meldet die Leitstelle zurück: „Sie können in den Waal einfahren, kein Gegenverkehr, backbord vor Ihnen ein Motorschiff, das in den Kanal einbiegt, aber Sie haben Platz. Gute Fahrt!“
Am schlimmsten sind die überholenden Schiffe
Wieso müssen wir überhaupt auf den Waal und was macht ihn denn so schlimm? – Gleich nach der deutsch-holländischen Grenze verzweigt sich der Rhein in verschiedene Äste; der Waal ist der grösste. Auf ihm herrscht nicht nur die stärkste Strömung, sondern auch ein enorm grosser Schiffsverkehr nach oder von Rotterdam. Auf unserer Route von der Maas nach Nordholland lässt es sich nicht vermeiden, den Waal über 19 km bergwärts zu befahren, d. h. wir müssen von der Einmündung des Maas-Waal-Kanals ein Stück weit flussaufwärts bis zu jener Stelle fahren, wo sich der Rhein in Waal und Neder Rijn (Niederrhein) teilt.
Ja, diese 19 Kilometer haben es tatsächlich in sich: Während zweieinhalb Stunden kämpft unsere Solveig tapfer gegen Strömung und Wellen. Es gilt, den richtigen Weg zwischen den vielen entgegenkommenden Schiffen zu finden, welche jeweils mit einer blauen Tafel anzeigen, ob sie backbord (links) oder steuerbord (rechts) zu kreuzen beabsichtigen. Zudem bläst aus Norden ein starker Wind, welcher in Kombination mit der gegen den Wind gerichteten Strömung steile Wellen mit Schaumkronen produziert. Am schlimmsten aber sind überholende Schiffe, weil deren Wellen, schräg von hinten kommend, die Solveig recht ins Schlingern bringen. Ein riesiges Containerschiff stampft an uns vorbei, aber der unruhigste Kumpan ist ein kleiner Schlepper, der uns während eines kritischen Kreuzungsmanövers mit einem gut 200 Meter langen Schubverband überholt und dessen Wellen uns richtig durchschütteln.
Acht Stunden am Steuer
Endlich sehen wir vorne die Abzweigung des Neder Rijns. Ausgerechnet als wir in genügender Distanz von jener Landspitze sind, wo sich die beiden Flussarme trennen und ein komplexes Muster von grossen Wirbeln produzieren, taucht im Neder Rijn ein langsam flussaufwärts fahrendes Frachtschiff auf. In solchen Momenten kann man nicht lange überlegen: Voll Gas geben und die Solveig in einer scharfen Linkskurve knapp am andern Schiff vorbei in den Neder Rijn steuern, bevor uns die Strömung seitlich auf den Mauerspitz treibt, an dem sich die beiden Flussarme trennen.
Alles geht gut, und jetzt fahren wir, schon fast wie auf einem ruhigen Kanal, dem Fluss entlang und haben wieder Zeit und Musse, die Landschaft zu geniessen. Unterdessen ist es fast fünf Uhr geworden; ich stehe bereits fast acht Stunden ununterbrochen am Steuer. Auf der Karte finden wir einen Hinweis auf einen ehemaligen Baggersee am rechten Ufer, der als guter Ankerplatz gelte. Das tönt vielversprechend.
In Abrahams Schoss
In einer kleinen, von Bäumen umgebenen Bucht finden wir unseren Platz für die Nacht und sichern die Solveig mit zwei Ankern. In solchen Momenten tut es gut zu wissen, alles an Bord zu haben, Wasser, Strom, Gas zum Kochen, gut gefüllte Vorratsluken, auch eine Luke mit Wein. Die Küchenchefin zaubert ein tolles Essen auf den Tisch. Es ist unterdessen acht Uhr geworden. Nun nur noch das Abwaschen, dann geniessen wir beim Lesen und Musikhören den ausklingenden Tag. In der Nähe verteidigt ein Kuckuck mit seinem Ruf sein Revier, ansonsten absolute Stille. Später ziehen Gewitterwolken vorbei. Für kurze Zeit kommt starker Wind auf, aber die Anker halten das Schiff. Und schliesslich legen wir uns in der geräumigen Achterkabine zur Ruhe und schlafen wie in Abrahams Schoss. – Beim Einschlafen denke ich: Zum Glück hat der Waal nicht gemerkt, dass wir nur ein Hausboot sind!
Teil 1: Gerüche und Geräusche
Teil 2: Offline
Teile 3: Vergnügungsdampfer auf der Meuse
Teil 4: Sturmflut
Teil 5: Maasbracht