Das Thema springt einen an. Wer hat nicht im zu Ende gehenden Jahr sich mehrfach geärgert: über Drängler in der Warteschlange, über Kollegen, die mit geklauten Ideen erfolgreich waren, über Manager mit schamlos hohen Boni? Und so hat Richard David Precht mit seinem Buch über „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ ein Anliegen aufgegriffen, das fast allen am Herzen liegt.
Aber es ist dicke Weihnachtspost. Und fängt früh an: Bei Platon und seiner Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Idee des Guten. Das ist idealistisch. Aber weit entfernt von unserer Alltagsrealität. Man muss sich „heranlesen“, man muss es wissen wollen. Denn Precht geht einen langen Weg. Und er lässt auch die Provokation nicht aus.
Gegenseitiger Beistand im Kampf ums Dasein
Zum Beispiel: Die Theorien des russischen Fürsten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842 – 1921), der sich schon als Page am Zarenhof für die liberalen Grundsätze der französischen Revolution interessierte und sich später – unter anderem im Schweizer Jura – zum Anarchisten und Anhänger der Ersten Internationale wandelte. Was nichts mit Bombenterror aber viel mit Gemeineigentum, individueller Eigenverantwortung, Gleichheit und Zusammenarbeit zu tun hat.
Precht verficht aber vor allem eine von Kropotkins Kernthesen: Alle seine Beobachtungen an Tieren und Menschen, von Krähen über Affen bis zu sibirischen Bauern, führen den fürstlichen Anarchisten zum Ergebnis, dass „gegenseitiger Beistand“ das entscheidende Erfolgsrezept im Kampf ums Dasein ist – und nicht der individualistische „Krieg aller gegen alle“. Das wäre dann nichts als die kapitalistische Fehldeutung von Darwins Evolutionstheorie.
Es ist dicke Weihnachtspost. Precht arbeitet sich – in durchaus verständlicher, leserfreundlicher Sprache – durch Verhaltensforschung, Entwicklungspsychologie, Gehirnforschung bis zur gegenwärtigen Gesellschaftskritik und Modellen einer nachhaltigen Entwicklung. Durchaus praktisch. Etwa, wenn er das „Bruttonationalglück“ (gross national happiness), das im Königreich Bhutan als Messgrösse gilt, dem gängigen Bruttoinlandsprodukt (BIP) entgegensetzt. Das klingt zunächst sozialromantisch – aber auch konservative Politiker wie Nicolas Sarkozy oder globale Organisationen wie die UNO haben heute begriffen, dass Wohlstand nicht mit Wachstum gleichzusetzen ist, und schon gar nicht mit dem Wachstum des BIP. Nobelpreisträger wie Joseph Stiglitz und Amartya Sen unterstützen sie auf dem Weg nach neuen Masseinheiten.
Eine neue Weihnachtsbotschaft
Prechts „Kunst, kein Egoist zu sein“ ist ein kein parteipolitisches, es ist gesellschaftspolitisches Buch. Es plädiert gegen den Raubbau an der Natur aus schierem Profitinteresse, gegen die Vormacht der Wenigen zum Schaden der Vielen, für „mehr Regulierung von oben und mehr Freiheit von unten“. Das heisst, dass gegen den herrschenden Egoismus das „Prinzip der Nachhaltigkeit“ auch von oben, mit staatlichen Massnahmen, durchgesetzt werden muss, mit dem Ziel: „Gut leben statt viel haben“.
Es ist tatsächlich Weihnachtspost. Precht propagiert nicht die Revolution. Er plädiert – ähnlich wie Roger de Weck in seiner Krisen-Analyse – für eine Reform des Kapitalismus, für Bürgersinn und Rücksichtnahme und für mehr Demokratie, und für die Nutzung der Medien – von den alten bis zu den neuen und zum web 2.0 – zur Herstellung einer neuen Öffentlichkeit. Das bedeutet allerdings, so Precht, Regulierung in einem doppelten Sinn: Zuerst und ganz grundsätzlich die Sicherung des freien Zugangs für alle zu den Medien. Und zugleich und ebenso grundsätzlich die Regulierung gegen einen deregulierten Medienmarkt, der nach aller Erfahrung nicht die Qualität sichert sondern die wirtschaftliche und politische Macht derer, die diese Medien am erfolgreichsten zu nutzen wissen.
Das ist für die kommenden Auseinandersetzungen um die Medienordnung in der Schweiz ein wichtiger Impuls. Und man kann es als reizvolle Pointe betrachten, dass Precht im Schlussteil seines Buches ein Plädoyer für das Schweizerische Konkordanzsystem hält. Nach aller wissenschaftlichen Erkenntnis ist auch in der Politik Zusammenarbeit, partienübergreifende Konkordanz, das wirksamere Regierungssystem als der permanente Gegensatz von Regierung und Opposition.
Nicht nur individuelles Glück, auch erfolgreiche Demokratie beruht auf der Kunst, kein Egoist zu sein.
Richard David Precht: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Goldmann, München 2010 ISBN 978-3-442-31218-4