Biden hält am Phantom «Zweistaatenlösung» fest, wohl wissend, dass Netanjahu einem Palästinenserstaat nie zustimmen wird. Möglicherweise ist es die Absicht der israelischen Regierung, Gaza dauerhaft unbewohnbar zu machen und dessen Bewohner zu vertreiben.
Was gilt nun? Das, was US-Präsident Biden nach seinem Telefonat mit Netanjahu vom Freitag sagte, nämlich, dass der israelische Premier sich einer Zweistaatenlösung nicht grundsätzlich widersetzen würde? Oder das, was Netanjahu am Tag davor glasklar geäussert hatte: «In der Zukunft muss Israel das ganze Gebiet vom Fluss bis zum Meer kontrollieren.» Also ein klares Nein?
Die schwammigen Formulierungen, mit denen der amerikanische Präsident sein Telefongespräch schilderte (es gäbe ja verschiedene Versionen einer Zweistaatenlösung, das stimme ihn zuversichtlich …), müssen misstrauisch stimmen. Joe Biden musste offenkundig von Netanjahu wenigstens eine Worthülse bekommen, um nicht öffentlich total blamiert zu erscheinen. Hatten doch er selbst und all seine Emissäre bei ihren Nahostreisen der letzten drei Monate bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hingewiesen, dass für die USA die Schaffung eines palästinensischen Staats an der Seite Israels der einzige tragfähige Ausweg aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt sei. Sie versuchten Druck auf Netanjahu aufzubauen, auch wenn alle wissen mussten, dass es die (macht)politische Raison d’être genau dieses Politikers ist, einen Palästinenserstaat zu verhindern (siehe Beitrag von Claudia Kühner vom 20.1.24, «Netanjahu und seine falschen Versprechen»).
Netanjahu schafft Fakten
Dass es keine Zweistaatenlösung geben werde, versprach Netanjahu seinen Anhängern schon lange vor dem Tag des Hamas-Massenmords vom 7. Oktober, das verspricht er ihnen auch seither fast tagtäglich. Und er lässt den Worten konsequent auch Taten folgen: die immer grössere Zahl von israelischen Siedlungsstädten im besetzten Westjordanland einerseits, die massive Zerstörung der Infrastruktur des Gazastreifens anderseits. Dadurch macht er die Bildung eines auch nur halbwegs kohärenten palästinensischen Staats im Westjordanland praktisch unmöglich, und der Gazastreifen (so gross oder klein wie der Kanton Schaffhausen, bewohnt von 2,2 Millionen Menschen) ist nach 104 Tagen Krieg, das stellen Mitarbeiter von Uno-Organisationen an Ort und Stelle fest, zu einer unbewohnbaren Einöde geworden.
Es sei schwer vorstellbar, wie man die zerstörte Infrastruktur (nicht nur Wohnhäuser, Schulen und Amtsgebäude wurden zertrümmert, sondern auch die Anlagen für die Versorgung mit Wasser, Elektrizität und Heizgas) wieder herstellen könne, sagte etwa der Schweizer Phillippe Lazzarini, Chef von UNWRA, nach seinem eben beendeten vierten Besuch im Gazastreifen seit dem 7. Oktober.
Dass der Hamas-Massenmord (1200 Tote, mehr als 200 als Geiseln Entführte) bei den Israeli so viel Entsetzen und Angst ausgelöst hat, dass sich niemand konstruktive Gespräche mit irgendwelchen palästinensischen Behörden (auch nicht mit der Führung der Fatah im Westjordanland) vorstellen will, ist nachvollziehbar. Nur: Von den politisch Verantwortlichen darf erwartet werden, dass sie auch über den Tag hinaus denken – denken müssen oder müssten. Und das heisst: So traumatisierend das Geschehene ist, für Israel der 7. Oktober, für die Palästinenser der dadurch provozierte Krieg mit seinen bald schon 25’000 Todesopfern, die politisch Verantwortlichen sollten, nein müssen auch die Zeit danach im Blick behalten. Dies nicht einmal im Interesse der Gegenseite, sondern vor allem im Interesse der eigenen Gemeinschaft, für die sie Verantwortung tragen. Wenn nicht, dann bricht in zwei oder drei Jahren ein Konflikt ähnlicher Art aus, dann wiederholt sich der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt einmal mehr.
Vertreibung der Gaza-Palästinenser geplant?
Konkret: Netanjahu müsste eine Strategie für die Nachkriegszeit haben. Und da er ja, ein paar beschönigende Worte im eingangs erwähnten Telefonat mit Joe Biden hin oder, die Schaffung eines palästinensischen Staats ablehnt, müsste ihm etwas anderes, vielleicht Sinnvolles vorschweben.
Da gerate ich in Spekulationen: Ich befürchte, Netanjahu und die weit rechts orientierten Mitglieder seiner Regierung versuchen, im Gazastreifen eine derart ausweglose Situation herbeizuführen, dass der Druck (auch international) gewaltig steigen wird, den Gaza-Palästinensern die Migration über die Grenze nach Ägypten zu ermöglichen. «Freiwilligen Transfer» nennen das Politiker wie Smotrich oder Ben Gvir, beide Mitglieder des Kriegskabinetts von Benjamin Netanjahu.
Die ägyptische Führung wehrt sich, im Dialekt würden wir sagen «mit Händen und Füssen» dagegen – aus guten Gründen. Sie stellt sich auf den Standpunkt, Israel sei für das Palästinenserproblem verantwortlich, also müsse es dieses Problem auch selbst lösen, irgendwie. Und sie hat, ausserdem, Angst vor den wirtschaftlichen Konsequenzen einer Massenzuwanderung aus dem Gazastreifen und vor dem ideologischen Impact als Folge eines Zustroms von Menschen, von denen eine unbekannte Zahl mit Hamas sympathisiert oder sich mit der Geisteshaltung von Hamas identifiziert. Denn Hamas war ja ursprünglich ein Ableger der Muslimbruderschaft, also ausgerechnet jener Gruppe, die das al-Sissi-Regime mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (Massenverhaftungen, Todesurteile) bekämpft. Also wird Ägypten die Grenze zum Gazastreifen so lange wie möglich und auch so konsequent wie möglich gesperrt halten.
Gewisse Lücken im System aber gibt es offenkundig bereits. Zumindest berichtet «middleeasteye.net» aufgrund eigener Recherchen über ein bereits blühendes Geschäft von Schleppern am Grenzübergang. Wer 2000 Dollar für ein Kind und zwischen 5000 und 7000 Dollar für je eine erwachsene Person bezahle, werde hinüber geschmuggelt.
Es sind gewiss nur wenige, die sich das leisten können. Die überwiegende Mehrzahl der innerhalb des Gazastreifens aus ihren Wohnungen in (bestenfalls) Zeltlager Geflüchteten hofft, nur mit Glück noch den nächsten und den übernächsten Tag zu überleben. Und dann?