Wie jedermann bin auch ich für die negativen besonders hellhörig, während ich mit Lobesworten weit weniger geschickt umgehe. Ich frage mich dann, ob diese Beobachtung ins gleiche Kapitel gehört wie die journalistische Gewohnheit, mit schlechten Nachrichten aufzukreuzen, während die guten eben das Gegenteil einer Nachricht sind – ‚No News‘.
Ich sage dies aus gleich doppeltem Anlass. Unter den vielen freundlichen Leserwünschen zum Jahresende fanden sich auch kritische. Einer mir freundschaftlich verbundenen Leserin hatte ich mit meiner letzten Rubrik – über unsere preisgünstigen Waren und ihre elenden Entstehungsbedingungen – „die Freude an Weihnachten verdorben“.
Eine andere monierte, ich hätte positive Beispiele erwähnen sollen, umweltbewusste und sozialverträgliche Produkte, Switcher-T-Shirts zum Beispiel, oder das indisch-schweizerische Label BioRe mit den "pro natura"-Textilien von Coop Schweiz. Die gleiche Leserin fand auch die frühere Geschichte über die Landlosen-Bewegung „fast zynisch“ und herablassend, im Sinn von (und ich zitiere): „Zu nett, diese gewaltlosen Gandhianer ... letzten Endes erreichen sie doch nichts in diesem ... korrupten System.“
Die Geschichte vom reich gewordenen armen Ratan Tata
Ich brauche mit diesen Kommentaren nicht völlig einverstanden zu sein, um sie dennoch zu verstehen und zu schätzen. Denn es sind Einsprachen, die auch ich mir ständig mache, etwa wenn ich jeweils an meine nächste Kolumne denke und mehrere mögliche Themen im Kopf hin und her wälze. Manchmal ist es das Dilemma zwischen der aktuellen Story, mit der sich unsere Leitmedien abgeben, und der Momentaufnahme einer belanglosen Alltagsgeschichte. Oder es ist eben besagter Zwiespalt zwischen einem positiv inspirierenden Ereignis, die wir allzu oft zum Mauerblümchen miniaturisieren; und auf der anderen Seite dem Registrieren der überall hervorstarrenden Warzen und Wunden von Gesellschaften mitten im chaotischen Prozess ihrer Selbstgestaltung.
Konkreter Anlass Nummer zwei: Am Freitag dieser letzten Jahreswoche feierte Ratan Tata seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag und trat als Chef von Tata, dem grössten indischen Konzern, zurück. Ich hatte mich seit Längerem auf diese Story gefreut, denn sie ist ebenso aktuell, wie sie positiv ist. Es ist die Geschichte eines Jungen aus armen Verhältnissen, der vom reichen Zweig der Familiendynastie adoptiert wird, in den USA Architektur studiert, und der mit dem Patriarchen des Unternehmens eigentlich nur die Passion fürs Fahren und Fliegen teilt.
Tata kauft Jaguar-Rover
In allem Übrigen sind die beiden grundverschieden: Hier der Patrizier und Firmenpatriarch J.R.D. Tata, der seine hundert Firmen mit Grandezza, Weitblick und lockeren Zügeln führt; dort der unverheiratete Einzelgänger Ratan Tata, dessen massiger Leib fast zart wirkt in seiner Zurückhaltung, und dessen Scheu ein erstaunliches Mass an Entschlossenheit und Durchsetzungskraft verbirgt. J.R.D. ernennt Ratan zu seinem Nachfolger, zum Verdruss der Gross-Wesire der selbständig geführten Tochterfirmen. Doch statt die Diadochen weiterherrschen zu lassen, befördert Ratan sie mit Eleganz aus dem Unternehmen, konsolidiert die Besitzanteile der Muttergesellschaft, verbindet die Töchter unter einer gemeinsamen Strategie und einem einzigen Firmenlogo.
Einmal fest verschweisst, lässt RNT diese Firmen wachsen, organisch in Indien, durch Zukäufe im Ausland. Tata Coffee erwirbt Tetley und wird zum zweitgrössten Teeverkäufer der Welt, Tata Steel kauft Corus und wird zu einem der zehn weltgrössten Stahlproduzenten, Tata Motors kauft Jaguar-Rover und reiht sich unter die ersten fünf Fahrzeughersteller ein. Und das bedeutendste Tochterunternehmen, Tata Consultancy Services, gab es vor zwanzig Jahren noch kaum; heute ist es das grösste Software-Unternehmen Asiens.
Geachteter Sozialpartner
Das "Positive" an dieser Geschichte ist nicht allein der messbare Erfolg. Auch andere indische Unternehmen haben seit der Liberalisierung der Wirtschaft einen ähnlichen Aufschwung genommen. Das Besondere (und Seltene im indischen Kontext) ist bei Ratan Tata, dass er die ethischen Grundwerte der Firmengründer im Auge behielt, ein geachteter Sozialpartner war und Corporate Social Responsibility vorlebte, lange bevor sie zum Werbeslogan verkam. Natürlich weist auch Ratans Wirken Schattenseiten auf – sein Hofieren des mörderischen Politikers Narendra Modi im Interesse der Firmenbilanz bleibt unverzeihlich. Aber er war ein Mensch mit Augenmass, Bescheidenheit und dem Mut, das Richtige zu tun.
So ungefähr stellte ich mir das Gerüst dieser Feelgood-Story vor.
Dann die vergewaltigte junge Frau
Dann kam das Verbrechen in Delhi: Am 16. Dezember vergewaltigten sechs junge Männer in Delhi eine 23-jährige Physiotherapie-Studentin in einem Schulbus, den sie für eine Spritzfahrt requiriert hatten. Zwölf Tage später, nach einem heroischen Überlebenskampf ihres zerschundenen Körpers, endete das Martyrium der jungen Frau mit dem Tod. Es geschah ausgerechnet zu Beginn der Festtagszeit, der Zeit für Versöhnlichkeit und Hoffnung. Ich hatte noch die (Selbst-)Vorwürfe über mein negatives Schreiben im Ohr und dachte: Mit einer so abscheulichen Geschichte kannst Du das Jahr nicht abwinken.
Aber auch die Tata-Story wurde immer sinn- und geschmackloser, denn jeder Tag förderte neue Details über die bestialische Form der Vergewaltigung zutage. Und es dämmerte mir, und zweifellos vielen anderen Männern, wie alltäglich Gewalt gegen Frauen hier (und weiss Gott auch anderswo) ist, selbst wenn bei weitem nicht jede Vergewaltigung in einer solchen Orgie des Tötens endet; und wie sehr sich diese patriarchalisch programmierte Gesellschaft damit zufriedengibt, sie unter der Rubrik Unglücksfälle abzuhaken.
Perspektivelosigkeit der eigenen Existenz
Plötzlich waren die Zeitungen voll von solchen Vergehen, in all ihren perversen Verformungen, bezüglich Autonomie oder Alter der Opfer (bis zu fünfjährigen Kindern), aber auch der Vertuschung und Bagatellisierung durch Polizei und Gerichte. Und plötzlich hatte auch die routinemässige Akzeptanz durch die Öffentlichkeit ihren Kipp-Punkt erreicht. Die Schweigemärsche – ein verzweifelter Appell an den Staat, endlich etwas zu unternehmen – griffen auf andere Städte über, schwollen an, wurden laut.
Als die Polizei, statt Verständnis für die Anliegen der Demonstranten zu zeigen, mit Wasserwerfern einfuhr, wurden auch die Kerzenträger mit ihren eigenen Gewaltinstinkten konfrontiert. Die Racherufe verzerrten sich zur Groteske – lebenslange Haft genügte nicht mehr, die Täter mussten kastriert, chemisch mutiert, gefoltert, öffentlich gehängt werden. Als ich eine Freundin in Delhi fragte, ob in den endlosen TV-Diskussionen der soziale Hintergrund je zur Sprache komme, der diese Zerstörungswut inkubiert – eine brutalisierte Jugend im Slum, die schiere Perspektivlosigkeit der eigenen Existenz, der Zufall des Überlebens – meinte sie: „Dies auch nur zu erwähnen, würde als klammheimliche Sympathisierung mit den Tätern verstanden“.
Ich fühlte und fühle mich unfähig, darüber eine runde, abgewogene, vergiss eine positive Rubrik zu schreiben. Ich kann es nur in der reflexiven Brechung der Selbstbefragung, für die sich dieses Textgefäss zum Glück hergibt; und mit dem Strohhalm der Hoffnung, dass sich hier vielleicht etwas Positives ankündigt, ein Paradigmenwechsel darüber, wie die indische Gesellschaft mit ihren Frauen und Mädchen umgeht; und mit dem weiblichen Teil ihrer eigenen Natur