Die Katze kam auf leisen Pfoten. Ende Februar übergab eine Baufirma aus Singapur das vollendete Hafenprojekt von Gwadar einem pakistanischen Unternehmen. Nichts Besonderes, ausser dass Geber und Empfänger identisch waren: der chinesische Staat. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die neue Besitzerin auch die pakistanische Regierung mit ins Bett genommen hat. Aber dies ist eine Kleinigkeit - Rücksichtnahme auf lokale Sensibilitäten.
Verringerung des Lieferrisikos
China hat es nicht mehr nötig, sich bedeckt zu halten. Die Welt soll es ruhig wissen: Das Reich der Mitte integriert seine Peripherie. Mit der Übergabe des Hafens hat China gleich doppelten Exklusivzugang zum Hafen in der Südwest-Ecke Pakistans, keine 350 Seemeilen von der Strasse von Hormus entfernt. Sobald einmal die Erdöl- und Erdgas-Pipelines nach Sinkiang – das Indus-Tal hinauf und über den Khunjerab-Pass – gebaut sind, werden chinesische Öltanker in Gwadar ihre kostbare Fracht löschen, statt ausschliesslich auf den langen und potenziell unsicheren Weg durch die Strasse von Malakka und das umstrittene Südchinesische Meer angewiesen zu sein.
Um auch das Lieferrisiko aus den Emiraten und Saudiarabien zu verteilen, wird die Gas-Pipeline in einigen Jahren an einen iranischen Rohrstrang angeschlossen werden, der ebenfalls durch das pakistanische Baluchistan verläuft. Der Start zu diesem Projekt fand keine zwei Wochen nach der Übergabe von Gwadar statt. Iran, geplagt von Sanktionen, ist dermassen auf diese Hintertüre versessen, dass seine Pipeline zur Grenze bereits gelegt ist.
Die USA bekommen Gesellschaft
Gwadar ist nicht nur ein Umschlaghafen, sondern wird auch eine Marinebasis, der zweite Flottenstützpunkt Chinas im westlichen Indischen Ozean – der "Arabian Sea" -, nachdem Sri Lanka den Hafen von Hambantota den Chinesen als Stützpunkt versprochen hat. Der Tag ist nicht mehr fern, wo der erste chinesische Flugzeugträger auf dem Weg in den Golf in Gwadar anlegen wird. Die USA bekommen Gesellschaft.
Auch im östlichen Teil des Ozeans, in der Bucht von Bengalen, hat Beijing Brückenköpfe gesetzt. Die Insel von Tschapru ("Kyaukpyu" geschrieben), etwa 200 Meilen südlich von Sittwe in Arakan, soll dereinst ein "Klein-Singapur" werden. Gemäss dem indischen China-Experten Raja Mohan ist ein Erdgas-Terminal bereits fertiggestellt, und der Bau eines Umschlagplatzes für Erdöl begonnen.
Handel statt Waffengänge
Die Gas-Pipeline in die Provinz Yünnan steht schon. Sie wurde trotz ihrer Länge von 800 Kilometern in sagenhaften drei Jahren vollendet. Auf der gleichen Trasse soll nun eine Öl-Pipeline gelegt werden, gefolgt von einer Eisenbahn- und einer Strassenverbindung. Nahezu ein Drittel des externen Erdgasbedarfs Chinas (12 Milliarden Kubikmeter) soll demnächst über diese Linie eingeführt werden; wenn Ölterminal und -pipeline einmal stehen, werden zudem 22 Millionen Tonnen Erdöl den gleichen Weg nehmen. Muss man noch erwähnen, dass China auch in Tschapru eine Marinebasis eingerichtet hat?
Indien empfindet die chinesische Perlenkette um den Subkontinent allmählich als einen Mühlstein. Es hat seine militärische Niederlage vor fünfzig Jahren immer noch nicht verarbeitet, verständlich angesichts des ungelösten Grenzverlaufs entlang der 3500 Kilometer gemeinsamer Nachbarschaft im Himalaya. Inzwischen ist aus der Feindschaft eine frostige Nachbarschaft geworden, aufgeweicht durch immer engere Handelsbeziehungen. Sie sind heute so substanziell, dass sich jede Seite einen neuen Waffengang gut überlegen wird.
Kriegerische TV-Nachrichten
Waffengang? Plötzlich, seit einer Woche, ist das Wort wieder aufgetaucht. Mitte April hat eine chinesische Patrouille zehn Kilometer tief im indischen Ladakh ihre Zelte aufgeschlagen. Wie jede bilaterale Reibung weckte auch diese bei den Indern sofort Erinnerungen an vergangene Demütigung. Sie legt den Minderwertigkeitskomplex bloss, den das Land gegenüber den Weltmacht-Aspirationen Beijings empfindet. Sofort wurden Rufe nach Vergeltungsaktionen laut. Wären die TV-Nachrichtenkanäle ein Spiegel der nationalen Befindlichkeit, müsste man sich auf einen Krieg gefasst machen.
Die Fernseh-Feldherren lassen sich auch nicht stutzig machen, dass es schwierig ist, von einer Grenzverletzung zu sprechen, wenn gar keine verbindliche Grenze vorliegt. In ihren Landkarten ziehen beide Staaten ihre Demarkationslinien jeweils bis tief ins Gebiet des anderen. Deshalb haben sie sich darauf geeinigt, nur von der Line of Actual Control (LAC) zu reden und diese zu respektieren. Das ist aber für beide zu viel verlangt. Aus Furcht, die LAC, die meist durch eine Steinwüste verläuft, könnte zur Grenze verwachsen, wenn man sie in Ruhe lässt, kommt es immer wieder zu Verletzungen dieser angeblichen Zone of Peace and Tranquillity. Die Gegenseite, so behaupten die aufgebrachten Inder, habe allein letztes Jahr über vierhundert solcher Störmanöver vollführt. Über die eigenen Nadelstiche schweigt sich Indien aus. Hiesige Zeitungen zitierten aber den Aussenamt-Sprecher in Beijing, laut dem indische Truppen einen Geschützstand auf der Gegenseite errichtet und noch nicht geräumt hätten.
Aus Unscheinbarkeit eine Tugend machen
Der jüngste von den Chinesen provozierte Zwischenfall lässt aber auch unabhängige Beobachter perplex. In zwei Monaten will der neuernannte chinesische Premierminister Li Keqiang Delhi seine Aufwartung machen. Will die neue Führungsriege Härte demonstrieren und die LAC-Verletzung als Verhandlungspfand zum Tisch bringen? Oder will sie den Besuch beim lästigen Nachbarn gar platzen lassen? Und damit den Bundesgenossen Pakistan erfreuen, denn nach Delhi wollte Li nach Islamabad fliegen? (Es ist ein Flugplan, über den man in Pakistan die Nase rümpfte). Oder inszeniert das Reich der Mitte, wie so oft zuvor, einen taktischen Ausfall, um sich dann wieder hinter ihre Mauern zurückzuziehen?
Wenn der jüngste Zwischenfall etwas deutlich macht, dann ist es die Nonchalance, mit der Beijing handelt und die Inder vor den Kopf stösst. Es unterschätzt damit auch die Risiken, die die neue Hegemonialmacht eingeht, wenn sie sich mit seiner Finanz- und Marktmacht die lokalen Herrscher von Burma bis Pakistan, Sri Lanka bis Afghanistan in die Tasche steckt. Was früher der Ugly American war, droht nun der "hässliche Chinese" zu werden. Bereits in Myanmar musste Beijing ein Wasserkraft- und ein Bergbauprojekt aufgeben. Lokaler Widerstand gegen die unzimperliche Umsiedlungspolitik zwang das Militärregime in Yangon, auf Distanz zu China zu gehen.
Das künftige "Klein-Singapur" Tschapru/Kyaukpyu liegt mitten in der Arakan-Provinz, in der schwere ethnische Unruhen gegen die Minderheit der muslimischen Rohingyas stattfinden – auch dies der potenzielle Herd einer neuen islamischen Terror-Bewegung. In Sri Lanka hat sich Beijing mit der regierenden Familiendynastie arrangiert, deren anti-tamilische Politik den Keim eines neuen Bürgerkriegs gesetzt hat. Und entlang der Erdöl-Trasse in Pakistan lassen sich ein halbes Dutzend militante Bewegungen ausmachen, für die eine Pipeline-Explosion ein willkommenes und weitleuchtendes Fanal für ihre Sache wäre. Vielleicht hat sich die neue Weltmacht doch etwas zu früh von Teng Hsiao Pings altem Ratschlag verabschiedet, der da lautete: "Sein Leuchten verbergen/Aus Unscheinbarkeit eine Tugend machen."