Alle Warnungen fruchteten nichts. Mehrmals empfahlen die Ärzte Néstor Kirchner, seine Unrast zu bändigen, weniger hektisch zu leben. Doch der machthungrige Vollblutpolitiker aus dem tiefen Süden Argentiniens wollte auch nach zwei chirurgischen Interventionen innerhalb eines Jahres nicht kürzer treten. Es war ihm wichtig, weiterhin seine Peronistische Partei fest unter Kontrolle zu haben, allen wichtigen Regierungsgeschäften seinen Stempel aufzudrücken und seit einigen Monaten als Generalsekretär der Union Südamerikanischer Nationen auch auf regionaler Ebene Einfluss auszuüben. Und er brachte sich überall voll ein, kämpfte immer mit grosser Leidenschaft und voller Ungeduld. Als Gouverneur der patagonischen Provinz Santa Cruz genauso wie als Chef in der Casa Rosada, dem Regierungssitz in Buenos Aires. Wenn es um den Nationalsport Fussball ging ebenso wie bei politischen Auseinandersetzungen.
Zielstrebig und tüchtig…
Kirchner trat das höchste Staatsamt im Jahr 2003 unter schwierigen Bedingungen an. Er hatte mit einem Stimmenanteil von mageren 22 Prozent die Präsidentenwahl für sich entschieden, weil sein parteiinterner Rivale, der frühere Staatschef Carlos Menem, aus Angst vor der drohenden Niederlage nicht mehr zur Stichwahl angetreten war und ihm damit den Weg frei gemacht hatte. Kirchner musste zunächst einmal Verbündete zu suchen, um einigermassen ungestört regieren zu können. Gleichzeitig erwarteten seine Landsleute von ihm, dass er sein Versprechen hielt und Argentinien schnell aus einer der schwersten Wirtschaftskrisen in seiner Geschichte herausführte. Und es ging tatsächlich wieder aufwärts: Während Kirchners Amtszeit wuchs die Wirtschaft jährlich um durchschnittlich acht Prozent. Er trat für eine Abkehr „vom Neoliberalismus ohne Kontrolle“ ein und verstärkte den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft. Wie sehr er mit dieser Politik zum Aufschwung beitrug, lässt sich im Nachhinein schwer abschätzen. Südamerikas zweitgrösstes Land konnte in erster Linie dank der weltweit massiv anziehenden Nachfrage nach Rohstoffen verhältnismässig rasch dem Jammertal entfliehen: Rindfleisch, Soja und anderes Getreide aus Argentinien fanden reissenden Absatz.
Vorbildliches leistete Kirchner in der Menschenrechtspolitik; er sorgte dafür, dass zwei umstrittene Amnestiegesetze aufgehoben wurden und damit die Militärdiktatur (1976 – 1983) juristisch aufgearbeitet werden kann. In anderen Bereichen, beispielsweise dem Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft, der Energiepolitik, oder der inneren Sicherheit, sah sein Leistungsnachweis am Ende der Amtszeit im Jahr 2007 weit weniger gut aus.
…aber auch selbstherrlich und feindselig
Viele Argentinier stiessen sich an Kirchners selbstherrlichem Regierungsstil, der Arroganz und der Feindseligkeit, mit der er politische Gegner behandelte. Er duldete keinen Widerspruch, wer nicht rückhaltlos hinter ihm stand, musste damit rechnen, öffentlich als Verräter gebrandmarkt zu werden. Das blieb auch so, als er nicht mehr Staatschef war, sondern nur noch der engste Berater seiner Gattin und Nachfolgerin im Präsidentenamt, Cristina Fernández de Kirchner. Er hätte 2007 noch einmal antreten können und wäre wohl auch ehrenvoll wiedergewählt worden. Kirchner hielt es aber für zweckmässiger, eine Amtsperiode lang seine Frau regieren zu lassen - mit der Option, 2011 wieder selbst zu kandidieren. In der Zwischenzeit wollte er seine Führungsposition im Partido Justicialista festigen. Die von Juan Domingo Péron in den vierziger Jahren gegründete Gerechtigkeitspartei ist nach wie vor die einflussreichste politische Kraft in Argentinien, den ewigen internen Querelen und Richtungskämpfen zum Trotz. Kirchner gelang es, seine Machtbasis in der Partei rasch zu verbreitern. Es erstaunte deshalb nicht, dass einheimische Kommentatoren immer öfter vom Kirchnerismus sprachen anstatt vom Peronismus.
Jetzt ist Kirchner tot. Wird der Kirchnerismus auch ohne ihn weiterleben? Cristina Kirchner ist in den vergangenen Jahren konsequent auf dem von ihrem Mann vorgezeigten Weg weitergegangen. Sie wusste ihn dabei stets als Mitregent an ihrer Seite. Jetzt muss sie von einem Tag auf den anderen ohne ihn zurechtkommen. Das ist eine riesige persönliche Herausforderung. Aber auch eine Chance. Für Cristina und für Argentina.