Noch 1984 zählte man in der Schweiz erst 212 Gefangene, die über 50 Jahre alt waren, 2010 waren es bereits 446. Die Anzahl der über 60jährigen nahm in dieser Zeit von 58 auf 113 zu. Nach allen Prognosen wird sich diese Entwicklung in den nächsten Jahren noch verstärken. Die massive Zunahme lässt sich nur zu einem kleinen Teil auf das Älterwerden der Bevölkerung insgesamt zurückführen. Auch kommt es relativ selten vor, dass Alte delinquieren und zu einer langen Strafe verurteilt werden.
Für den emeritierten Freiburger Strafrechtsprofessor Franz Riklin ist klar, wo die Ursachen für diese Entwicklung liegen: Es gibt immer weniger Entlassungen aus dem Strafvollzug. „Wer einmal das Label gefährlich trägt, kommt fast nie mehr aus dem Vollzug“, sagt er. Das gilt nicht nur für die gegenwärtig rund 160 Verwahrten und die zehn im Schnitt jedes Jahr zusätzlich Verwahrten. Auch bedingte Entlassungen nach zwei Dritteln der Strafdauer sind selten geworden. Selbst dort, wo im Urteil noch keine Rede von einer besonderen Gefährlichkeit des Verurteilten war, wird akribisch geprüft, ob von diesem nicht vielleicht doch eine Gefahr ausgehen könnte.
Eine Folge der Nullrisiko-Politik
Der Präsident der Fachgruppe „Reform im Strafwesen“ führt dies darauf zurück, dass die Verantwortlichen heute kaum mehr den Mut zu Entlassungen aufbringen. Denn sollte doch einmal etwas passieren, müssen sie mit Verunglimpfungen rechnen und den Verlust ihrer Stelle befürchten. Auch der Zürcher Rechtsanwalt Matthias Brunner ärgert sich über die „medial gepuschte Erwartung, dass die Justiz jeden Rückfall vorauszusehen und abzuwenden hat“. Deshalb füllten sich heute die Gefängnisse unter dem Titel der Verwahrung oder der stationären therapeutischen Massnahme, der sogenannten kleinen Verwahrung. In unseren Vollzugsanstalten lebten so immer mehr Menschen, die ihre Strafe längst verbüsst hätten. Dieses „Nullrisiko-Prinzip“ widerspricht laut Brunner einem der elementarsten Grundsätze der Bundesverfassung, es ist mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip nicht zu vereinbaren.
Separation oder Integration
Diese Nullrisiko-Politik führt dazu, dass es in Zukunft immer mehr Menschen geben wird, die im Gefängnis alt werden und schliesslich auch sterben werden. Doch wie soll der Staat damit umgehen? Braucht es spezielle Anstalten oder Gefängnisabteilungen für die alten Gefangenen? Und wie kann für solche Gefangene das Leben und Sterben im Strafvollzug einigermassen würdevoll gestaltet werden? Diese Fragen waren Thema einer von der Fachgruppe Reform im Strafwesen in Kooperation mit dem Zürcher Amt für Justizvollzug und der ZHAW, der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften organsierten Tagung. Barbara Baumeister und Samuel Keller von der ZHAW haben im Rahmen eines Nationalfonds-Forschungsprojektes mit alten Strafgefangenen gesprochen. Alle Befragten klagten über gesundheitliche Einschränkungen. Viele ziehen sich zurück und haben kaum noch Kontakt mit anderen Insassen. Baumeister und Keller sprechen sich für eine Separation der alten Insassen aus. Das hätte den Vorteil, dass sie entsprechend ihren Bedürfnissen untergebracht und ihrer Situation angemessene Vollzugskonzepte realisiert werden könnten. Zudem sollte das Personal hier befähigt sein, mit älteren kranken und dementen Menschen umzugehen.
Die USA und Deutschland gingen voran
Die Mehrheit der US-Bundesstaaten verfügt heute über spezielle Anstalten oder Abteilungen für alte und chronische pflegebedürftige Gefangene. In manchen Bundesstaaten gibt es zudem Hospize für sterbende Insassen. Auch in Grossbritannien und Deutschland existieren seit Jahren separate Einrichtungen. In der Schweiz ist 2011 die Abteilung „60plus“ der Justizvollzugsanstalt Lenzburg eröffnet worden. Eine weitere Spezialabteilung soll in der Bündner Anstalt „Nuovo Realta“ entstehen.
Zwischen den Spezialeinrichtungen gibt es erhebliche Unterschiede. Die Abteilung „60plus“ in Lenzburg bietet in erster Linie langstrafigen oder verwahrten alten Gefangenen einen Vollzugsplatz. Die meisten werden ihre Entlassung aus dem Vollzug nicht mehr erleben. Deshalb geht es anders als sonst im Strafvollzug nicht um Resozialisierung und Vorbereitung auf eine Entlassung in die Freiheit. Das Betreuerteam bemüht sich unter anderem, die kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten der Insassen möglichst lange zu erhalten. Ein wichtiges Thema ist der Umgang mit Sterben und Tod.
Das Beispiel Singen
Ganz anders das Konzept der seit 1970 bestehenden Aussenstelle Singen der Justizvollzugsanstalt Konstanz mit ihren 54 Plätzen. Hier sitzen nicht alt gewordene Langzeitgefangene wie in Lenzburg ein, sondern Männer, die im fortgeschrittenen Alter noch eine Straftat begangen haben. Genauer gesagt männliche Gefangene, die zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung das 62. Lebensjahr vollendet haben und Freiheitsstrafen von mehr als 15 Monaten verbüssen müssen. Es sind nicht Senioren, die entsprechend dem in Spielfilmen gepflegten Cliché Banken ausrauben, sondern zumeist wegen Sexual- und Gewaltdelikten Bestrafte. Es gibt hier anders als in Lenzburg keine Verwahrten. Deshalb ist in Singen das Sterben nicht das grosse Thema, erklärt Ellen Albeck, Leiterin der JVA Konstanz. Immerhin ist der älteste Insasse bereits 83 Jahre alt.
Nicht aufgenommen werden Verurteilte bei denen eine Suizidgefahr oder Fremdgefahr besteht. Es gibt neben topfiten 70jährigen viele Gefangene mit Gesundheitsproblemen und beginnender Demenz. Doch die Anstalt in Singen ist wie viele Schweizer Vollzugseinrichtungen nicht rollstuhlgängig und deshalb für schwer Gehbehinderte nicht geeignet. In manchen Zellen müssen die Insassen sogar in Stockbetten hinaufklettern.
Arbeitspflicht auch für Senioren?
In Schweizer Gefängnissen gilt nach Gesetz die Arbeitspflicht. Diese endet auch nicht automatisch mit dem ordentlichen Pensionsalter. In der Lenzburger Abteilung 60plus gilt so eine reduzierte Arbeitspflicht von 50 Prozent. Im Kanton Graubünden musste sich ein 75jähriger sogar vor Gericht das Recht erkämpfen, nur noch zu 50 Prozent zu arbeiten. Auch beim Zürcher Verwaltungsgericht ist eine entsprechende Beschwerde eines Häftlings hängig.
Ganz anders in den deutschen Vollzugsanstalten. Hier kann der Gefangene frei wählen, ob er nach Eintritt des Pensionsalters noch arbeiten will, wie die Leiterin der JVA Konstanz, Ellen Albeck, erklärt. Doch muss es für die Betroffenen möglich bleiben, weiterhin zu arbeiten, betont sie. Die meisten wollten das auch, um eine vernünftige Tagesstruktur zu erhalten, damit es ihnen nicht langweilig wird. Auch Ueli Graf, der Direktor der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, ist dafür, den Gefangenen freizustellen, ob sie nach Erreichen des Pensionsalters noch arbeiten wollen.
Für Graf steht fest, dass man im Gefängnis schneller als alt wird als draussen: „Der Mensch eignet sich von Natur aus nicht, eingesperrt zu werden.“ Der Mangel an Selbstbestimmung und Eigenverantwortung beschleunigt nach seiner Überzeugung die physischen und psychischen Abnutzungserscheinungen. Denn das Leben hinter Gittern ist streng reglementiert und durchorganisiert. Und dort, wo die Mitarbeiter der Anstalt nicht mitbekommen, was läuft, gelten die Regeln der Gefangenensubkultur.
Im Gefängnis altert man schneller
Thomas Staub, der Gefängnisarzt von Pöschwies, hat seit Jahren den Alterungsprozess bei den Gefangenen beobachtet. Er hat festgestellt, dass die Rückzugs- und Abbauprozesse, welche beim Menschen in Freiheit mit etwa 60 beginnen, unter den künstlichen Lebensbedingungen im Vollzug bereits mit etwa 40 Jahren einsetzen.
Der Strafvollzug muss diesen schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenwirken. Das ist kein Postulat weltfremder Reformer, sondern vom Gesetzgeber so verlangt. Ueli Graf fordert deshalb, dass nur noch jene Gefangenen geschlossen untergebracht werden, die die öffentliche Sicherheit tatsächlich gefährden. Zentral ist es für ihn aber auch, wie der schwache und speziell der alte Gefangene vor dem Starken geschützt werden kann?
Ein Betreuer pro Insasse
Der Pöschwies-Direktor setzt seine Hoffnungen auf den Gruppenvollzug, in dem der Gefangene in einer fest zusammengesetzten Gruppe lebt und arbeitet. Ideal wäre es laut Graf, wenn es im geschlossenen Vollzug eine Personalstelle pro Gefangenen geben würde. So hätte das Personal die Zeit, sorgfältig hinzuschauen und den Gefangenen vermehrt deliktpräventiv und resozialisierend zu beeinflussen. Doch davon ist man noch weit entfernt. Ein Betreuungsverhältnis von 1:1 gibt es heute erst in der Forensisch-Psychiatrischen Abteilung der JVA Pöschwies. Hier konnte man, freut sich Graf, „nach nunmehr dreijährigen Erfahrungen feststellen, dass es dem Personal offensichtlich gelingt, die subkulturellen Einflüsse der Mitgefangenen zurückzudrängen und die Schwachen wirksam vor den Starken zu schützen“. Doch auch der Ende Jahr in Pension gehende Anstaltsdirektor weiss, dass es kaum möglich sein wird, für flächendeckende Verbesserungen die nötigen Mittel zu erhalten.
Wo darf der Gefangene sterben?
Ein grosses Problem können weder Sondereinrichtungen à la Lenzburg oder Singen noch der Gruppenvollzug in Pöschwies befriedigend lösen. Was geschieht mit schwerstkranken Gefangenen, mit Menschen, die vor dem Streben stehen? Müssen sie um jeden Preis im Gefängnis zurückgehalten werden, oder kann der Vollzug unterbrochen werden? Soll man den Betroffenen ein Sterben in Würde ausserhalb der Mauern ermöglichen?
In Frankreich erlaubt das Gesetz anders als in der Schweiz bei Schwerstkranken einen Unterbruch des Strafvollzugs. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat schon in diesem Sinne entschieden. Doch in der Praxis schrecken auch in Frankreich die Verantwortlichen oft vor einer Entlassung Schwerstkranker zurück, weil sie den Aufschrei in Medien und Bevölkerung fürchten.
Abgeschoben in letzter Minute
In der Schweiz mogelt man sich mit einer Pseudolösung durch. Das hat an der Zürcher Tagung der Arzt und Vizepräsident der Kommission zur Verhütung der Folter, Jean-Pierre Restellini, kritisiert: „Man hat es nicht gerne, wenn die Insassen im Gefängnis sterben. Deshalb überführt man die Sterbenden in letzter Minute in ein oft bereits überfülltes Spital, wo sie dann irgend in einem Gang abgestellt werden.“ Auch der Zürcher Anwalt Matthias Brunner kennt solche Fälle. „Nicht selten stirbt man bereits im Krankenwagen“, weiss er. Brunner kann nicht verstehen, weshalb Todkranke, von denen keinerlei Gefahr mehr ausgehen kann, „bis zuletzt unter der Fuchtel des Staates bleiben müssen“.