Am Montag geht der indische Wahlkampf zuende, wenn die Wähler in den noch verbleibenden 41 Wahlbezirken an die Urnen gehen. Es war ein langer Wahlkampf, und der sprichwörtliche Enthusiasmus der Inder für demokratische Wahlen wurde auf eine harte Probe gestellt. Mit der lückenlosen medialen Abdeckung des Landes sahen viele in den neun Wahltagen neunmal dieselben Bilder – Warteschlangen vor den Urnen, Parteiprominenz, das stoze Vorzeigen des Fingers, auf dem der waschfeste Tintentupfer schwarz auf weiss zu sehen war: Jeder Wähler – König für einen Tag!
Bei den Politikern stieg der Stress im gleichen Mass wie die Sommertemperaturen. Die Wahlreden wurden immer persönlicher, giftiger. Twitter und Smartphones sorgten dafür, dass ein ‚Soundbyte‘ einer Wahlrede in einem südindischen Fischerdorf sofort beim gegnerischen Kandidaten landete, der vielleicht 2500 Kilometer entfernt sogleich reagierte. Trotz Überdruss hingen Hunderte von Millionen Indern weiterhin am Tropf der täglichen Fernsehberichte. Auch wir schleppten uns jeden Abend vor den Bildschirm, um die Keilereien im Studio zumindest anzuschauen – zuhören war ausgeschlossen, wenn mehrere Parteivertreter gleichzeitig auf dem mehrfach gesplitteten Bildschirm in die Mikrophone schrien.
Narendra Modi im Mittelpunkt
Es war ein Wahlkampf, der nur ein Thema hatte: Narendra Modi. Er besetzte nicht nur die Bildschirme und Schlagzeilen, sein Name, seine Aussagen, seine Garderobe, seine Auftritte und Paraden kursierten unablässig durch den Blutstrom von 800 Millionen Mobiltelefonen. Er hielt 437 Wahlreden in 25 Bundesstaaten. Das ergibt, bei durchschnittlich 50‘000 Teilnehmern, 43 Millionen, die ihn physisch erleben konnten.
Kommentatoren meinen, schon dies mache aus der Wahl eine historische. Auch Jawaharlal Nehru und Indira Gandhi hatten Wahlkämpfe beherrscht. Aber die technischen Limiten hatten ihre Präsenz zu statischen Zeitungsbildern und Wortfetzen im Radio abgedämpft. Die totale mediale Vernetzung von 2014 dagegen wirkte als Multiplikator für jede Geste und jeden Seitenhieb. Modi verstand dies wie kein Zweiter. Er erreichte eine mediale Omnipräsenz, die schon allein in ihrer technischen Totalität beklemmend wirkte; dabei waren die kommunizierten Inhalte noch nicht einmal in den Blick gekommen. Sein Wahlkampf glich je länger je mehr einer Präsidialwahl in kommunistischen Zeiten und Staaten. Unklar war nur, mit welchem Vorsprung der Favorit vor dem Haufen abgeschlagener Verfolger ins Ziel kommen würde.
Meister der politischen Symbolik
Die Resultate werden erst am 16. Mai vorliegen, aber niemand zweifelt mehr am Sieg Modis. Um nur einen Indikator zu nennen: Seit ihn die BJP im Juni 2013 für den Wahlkampf nominierte, haben repräsentative Umfragen viermal die Frage sondiert, wer die besseren Gewinnchancen hat – die BJP-Allianz oder die Kongress-Koalition. Im Juni 2013 lag der Vorsprung der BJP bei 23 Sitzen. Im September wurden daraus 69 Sitze, im Dezember 119, und vor dem Wahlkampfbeginn im März hatte sich der Abstand auf 164 Sitze ausgeweitet. Die Schere öffnete sich zudem auf beide Seiten – der Kongress sackte von 134 auf 92 ab, die BJP katapultierte sich von 156 auf 275 (die Mehrheit ist mit 272 erreicht).
Zu den zuletzt wählenden Wahlbezirken gehört auch Varanasi, einer der beiden Sitze, für die sich Modi bewarb. Das Wahldatum für diesen Bezirk war ein Zufall; kein Zufall, sondern ein meisterhafter Schachzug war es gewesen, sich vom fernen Gujerat in das politische Herz Indiens zu begeben. Es ist die Region, die sieben Premierminister (von insgesamt zwölf) nach Delhi geschickt hat. Varanasi ist auch die älteste noch lebende Stadt der Welt, und sie ist das spirituelle Zentrum des Hinduismus (wenn man bei dieser polymorphen Religion von einem einzigen spirituellen Zentrum sprechen darf). Gleichzeitig hält es in seiner Schäbigkeit und Vernachlässigung den Hindus einen Spiegel vor, den nur eine Renaissance auswischen kann – und, so das Skript Modis, nur ein Mann von seiner Tatkraft und Überzeugung.
Zunehmend national-religiöse Färbung
Je mehr sich die Zahl der noch wählenden Bezirke verringerte, desto mehr ragte Varanasi heraus. Und mit ihm schob sich immer stärker ein nationalreligiöser Akzent in den Vordergrund, den Modis Kampagne zuvor so sorgfältig vermieden hatte. Er kleidete sich immer noch in die Sprache von ‚Vikas‘ – Fortschritt – , er vermied immer noch den Appell ausschliesslich an die Hindu-Mehrheit. Aber das Ziel der Wiederherstellung einer Grossen Nation bekam unübersehbar religiöse Züge, als Modi in Varanasi landete.
Am 25. April hinterlegte er bei der Bezirksverwaltung seine Kandidatur für den Varanasi-Sitz. Er verwandelte diese triviale Amtshandlung in einen Triumphzug. Ein Konvoi von Autos und überfüllten Lastwagen, mit ihm an der Spitze, begann einen fünf Kilometer langen und langsamen Zug zur Bezirksverwaltung, der eine immer dichtere Menschentraube hinter sich herzog. Die Route war so gewählt, dass Modi an vier Statuen historischer Persönlichkeiten vorbeikam. Der Kandidat bekränzte jedes Standbild, als sei es ein religiöser Akt. Zwei der Persönlichkeiten waren Gründerfiguren der Republik gewesen – und Kongresspolitiker mit national-hinduistischen Überzeugungen; die dritte war der Dalit-Leader Ambedkar, den Höhepunkt bildete der Philosoph Vivekananda, der Prediger einer starken (und inklusiven!) Hindu-Nation.
Nach sechs Stunden erreichte der Zug das Bezirksbüro. Nur vier Personen, quasi Sekundanten, dürfen den Kandidaten jeweils ins Innere begleiten. Auch hier zeigte das Skript Modis Handschrift, sodass sich der historische Moment noch stärker symbolisch aufladen würde. Ein Bootsmann war dabei, ein Musiker, ein Weber, und ein (ehemaliger) Richter. Nichts Besonderes, würde der Aussenstehende meinen. Aber jeder Inder erkannte sofort: Der Bootsmann ist eine Demutsgeste an die Mutter Ganges; der Musiker erinnert an die grossen Musiker-Generationen der Stadt; der Weber (und vielleicht war es sogar ein Muslim) ist eine Reverenz an die lokale Tradition dieses Kunsthandwerks, und der brahmanische Richter ist der Hüter von Wissen und Recht.
Noch lebt der Pluralismus
Der einzige Politiker, der diesem ‚Juggernaut‘ (wie das Anglo-Indische gigantische Tempelprozessionen nannte) die Stirne bot, war der kleine Arvind Kejriwal von der blutjungen Anti-Korruptionspartei AAP. Seine Botschaft einer Politik ohne Religion, ohne Kaste und ohne Geldströme hatte eine respektable Anzahl von Bürgern auf die Strasse gebracht. Es war ein Hinweis, dass Indiens Pluralismus noch am Leben ist. Die elektronischen Medien allerdings – sie wurden im Verlauf der Kampagne immer mehr zu Berichterstattern des Siegers – würdigten Kejriwals Registrierung kaum eines Blicks.
Immerhin hatte die junge Partei Flagge gezeigt. Die Kongresspartei, die langjährige Hüterin von Indiens säkularer Modernität, glänzte durch Abwesenheit. Rahul Gandhi flatterte durchs Land, wiederholte seine gutgemeinten Argumente, ohne eine Spur von Ahnung, dass zur Politik auch Symbolik gehört. Die tapfere Miene konnte nicht verbergen, dass sein Herz nicht dabei war. Am letzten Tag des Wahlkampfs kam er doch noch nach Varanasi, und die Parteimaschine brachte die Leute auf die Strasse. Aber es war unklar, ob sie gekommen waren, ihm zuzuhören – oder ihrem Hamlet einen würdigen Abgang zu geben.